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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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die einen Cherub mit einem Blumenkorb auf dem Kopf darstellten, der oberhalb von zwei Tauben saß; ganz oben ein in einem Ring hockender Papagei und ein traurig dreinblickender Mädchenkopf mit schmaler Nase. Rechts davon ein Torbogen, der in einen Innenhof führte. Dort hielt mein Fahrer neben dem Saurer-Lkw, während ich den Wachen meine Papiere zeigte. Dr. Müller war beschäftigt, daher wurde ich von Obersturmführer Dr. Bolte, einem Offizier der Geheimen Staatspolizei, empfangen. Die unteren Dienstgrade belegten große Säle mit hohen Decken, die dank der hohen Sprossenfenster sehr hell waren; Dr. Bolte hatte sein Dienstzimmer in einem hübschen kleinen Rundzimmer, hoch oben in einem der beiden Türme, die das Gebäude zu beiden Seiten flankierten. In dürren Worten skizzierte er den Ablauf der Aktion: Jeden Tag wurde nach einem Zeitplan, der anhand der vom Judenrat gelieferten Zahlen festgelegt wurde, ein Teil oder die Gesamtheit der Juden eines der KMW-Orte per Bahn evakuiert; die Plakate, in denen sie zur »Umsiedlung in die Ukraine« aufgefordert wurden, hatte die Wehrmacht gedruckt, die auch den Zug und die Begleittruppen zur Verfügung stellte; sie wurden nach Mineralnyje Wody transportiert, wo man sie in einer Glasfabrik unterbrachte, bevor sie ein Stück weiter an einen sowjetischen Panzergraben geführt wurden. Wie sich zeigte, waren die Zahlen größer als angenommen: Es hatten sich viele Juden gefunden, die aus der Ukraine oder Weißrussland evakuiert worden waren, außerdem die Dozenten und Studenten der Universität Leningrad, die im Jahr zuvor zu ihrer eigenen Sicherheit in die KMW geschickt worden waren und von denen viele entweder Juden oder Parteimitglieder waren oderdoch Intellektuelle, die wir als gefährlich einstuften. Das Einsatzkommando nutzte die Gelegenheit, um verhaftete Kommunisten, Komsomolzen, Zigeuner, gewöhnliche Kriminelle, die man in den Gefängnissen antraf, und das Personal und die Patienten mehrerer Sanatorien zu liquidieren. »Wissen Sie«, erläuterte mir Bolte, »die Infrastruktur ist hier ideal für unsere Verwaltung. So haben uns beispielsweise die Abgesandten des Reichskommissars gebeten, das Sanatorium des Volkskommissariats für die Petroindustrie in Kislowodsk zu räumen.« Die Aktion war bereits in vollem Gange: Schon am ersten Tag waren sie mit den Juden von Minwody fertig geworden, dann mit denen aus Jessentuki und Shelesnowodsk; tags darauf sollten die aus Pjatigorsk folgen, und beenden würde man die Aktion mit den Juden aus Kislowodsk. Jedes Mal war der Evakuierungsbefehl zwei Tage vor der Operation angeschlagen worden. »Da sie nicht zwischen den Städten hin und her reisen können, ahnen sie nichts.« Er lud mich ein, mir die gerade laufende Aktion mit ihm zusammen anzusehen; ich erwiderte, lieber erst die anderen Städte der KMW besichtigen zu wollen. »Dann kann ich Sie leider nicht begleiten: Sturmbannführer Müller erwartet mich.« – »Das macht nichts. Sie brauchen mir nur einen Mann mitzugeben, der die Dienststellen Ihrer Teilkommandos kennt.«
    Die Straße führte westwärts, am Beschtau, dem größten der fünf Vulkane, vorbei aus der Stadt hinaus; weiter unten öffnete sich der Blick auf die Biegungen des Podkumok und sein graues schlammiges Wasser. Ich hatte, ehrlich gesagt, nichts Besonderes in den anderen Städten zu tun, aber ich war neugierig, sie kennenzulernen, und brannte nicht eben darauf, mir die Aktion anzuschauen. Jessentuki hatte sich unter den Sowjets in eine ziemlich uninteressante Industriestadt verwandelt; dort suchte ich die Offiziere des Teilkommandos auf, wir sprachen über ihre Maßnahmen und Pläne, und ich blieb nicht lange. Kislowodsk dagegen erwies sich als sehransprechend, ein traditionelles Kurbad von altmodischem Charme, das begrünter und hübscher war als Pjatigorsk. Die wichtigsten Heilquellen waren in einem merkwürdigen Gebäude untergebracht, das einem indischen Tempel aus den Anfängen des Jahrhunderts nachempfunden war; dort kostete ich von dem Wasser, das sie Narsan nennen, ich fand es zwar angenehm prickelnd, aber ein bisschen zu herb. Nach den Besprechungen ging ich im großen Park spazieren, dann kehrte ich nach Pjatigorsk zurück.
    Die Offiziere aßen gemeinsam im Speisesaal des Sanatoriums zu Abend. Das Gespräch kreiste vor allem um das militärische Geschehen, die meisten Anwesenden trugen den gebotenen Optimismus zur Schau. »Jetzt, wo Schweppenburgs Panzer den Terek überquert haben«, meinte Wiens,

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