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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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vorspringenden Nase noch unterstrichen wurde. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging, stank er nach Alkohol. Häfner behauptete, Blobel versuche damit, seine Ruhr zu behandeln. Ich war froh, dass ich nicht unmittelbar mit ihm zu tun hatte, und Kehrig, der dazu verpflichtet war, schien darunter zu leiden. Er selbst wirkte hier etwas fehl am Platze. Thomas erklärte mir in Pretzsch, die meisten Offiziere seien aus Behörden abgezogen worden, wenn sie abkömmlich waren. Man hatte ihnen von Amts wegen SS-Dienstgrade verliehen (so fand ich mich als SS-Obersturmführer wieder; das entspricht eurem Titel »Oberleutnant«). Kehrig, kaum einen Monat vorher noch Oberregierungsrat, kam seine hohe Stellung in der Beamtenhierarchie zugute; er wurde zum Sturmbannführer befördert. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich an die neuen Schulterstücke und Funktionen zu gewöhnen. Bei den Unteroffizieren und Mannschaften handelte es sich meist um kleine Ladenbesitzer, Buchhalter, Handlungsgehilfen – Menschen, die während der Depression in der Hoffnung auf Arbeit in die SS ein- und nie wieder ausgetreten waren. Unter ihnen gab es eine Anzahl Volksdeutscher aus dem Baltikum oder der Ukraine, düstere, farblose Menschen, die sich in ihren Uniformen unbehaglich fühlten und deren einzige Qualifikation ihre Russischkenntnisse waren. Manche konnten sich nicht einmal auf Deutsch verständigen. Radetzky unterschied sich allerdings von ihnen: Er rühmte sich, den Jargon der Bordelle von Moskau, wo er geboren war, ebenso zu beherrschen wie den von Berlin, und er machte immer den Eindruck, genau zu wissen, was er tat, selbst dann, wenn er nichts tat. Er sprach auch etwas Ukrainisch, anscheinend hatte er im Import-Export-Geschäft gearbeitet; wie ich kam er aus dem Sicherheitsdienst der SS. Dass er dem Südabschnitt zugeteilt worden war, trieb ihn zur Verzweiflung; er hattedavon geträumt, er werde der Heeresgruppe Mitte angehören, als Eroberer in Moskau einziehen und mit seinen Stiefeln auf den Teppichen des Kremls herumtrampeln . Vogt tröstete ihn, man werde sich auch in Kiew schon amüsieren, aber Radetzky verzog das Gesicht: »Die Lawra ist herrlich, das stimmt, doch sonst ist es ein trauriges Nest.« Am Tag der Rede von Jeckeln gab man uns abends den Befehl, unsere Sachen zu packen und uns am nächsten Tag marschbereit zu halten: Callsen könne uns jetzt in Empfang nehmen.
    Luzk brannte bei unserer Ankunft noch. Ein Trupp Feldgendarmerie nahm sich unserer an und brachte uns in die Unterkunft. Wir mussten die Altstadt und die Burg umgehen; es war ein umständlicher Weg. Kuno Callsen hatte die Musikakademie requiriert, ein schönes schlichtes Gebäude aus dem 17. Jahrhundert neben dem großen Platz am Fuße des Schlosses, ein ehemaliges Kloster, das im letzten Jahrhundert auch als Gefängnis gedient hatte. Callsen erwartete uns mit einigen Männern auf der Freitreppe. »Sehr praktisch hier«, erklärte er mir, während das Material und unsere Sachen abgeladen wurden. »Im Keller sind noch Zellen, man braucht nur die Schlösser auszuwechseln, ich habe schon damit angefangen.« Ich hielt mich statt an den Kerker lieber an die Bibliothek, doch sämtliche Bände waren auf Russisch oder Ukrainisch geschrieben. Auch Radetzky führte dort seine Knollennase spazieren, mit leerem Blick, ihn interessierten die Zierleisten. Als er an mir vorbeikam, wies ich ihn darauf hin, dass in der Bibliothek kein polnisches Buch zu finden war. »Seltsam, Sturmbannführer, vor noch nicht allzu langer Zeit war dies hier doch noch Polen!« Radetzky zuckte mit den Schultern: »Wie Sie sich denken können, haben die Bolschewisten alles gesäubert.« – »In zwei Jahren?« – »Zwei Jahre reichen. Besonders für eine Musikakademie.«
    Das Vorkommando war bereits überlastet. Die Wehrmacht hatte Hunderte von Juden und Plünderern festgenommenund verlangte, dass wir uns um sie kümmerten. Die Brände loderten weiter, Saboteure schienen sie zu schüren. Und dann gab es noch das Problem der alten Burg. Dr. Kehrig hatte beim Ordnen von Akten seinen Baedeker wiedergefunden und reichte ihn mir über die aufgerissenen Kisten hinweg, um mir den Eintrag zu zeigen: »Das Schloss von Lubart, sehen Sie, ein litauischer Fürst hat es bauen lassen.« Der Schlosshof quoll über von Leichen, vom NKWD vor dessen Rückzug erschossene Gefangene, hieß es. Kehrig bat mich, mir das anzusehen. Das Schloss hatte massive Backsteinmauern, die auf Erdwällen errichtet waren und von drei Türmen

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