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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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einen Satz ein über »bestimmte bedauerliche Exzesse vonseiten der Offiziere, die doch eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen sollten«. Ich wusste, dass das genügen würde. Und tatsächlich kam Thielecke am folgenden Tag in meinem Büro vorbei, um mir auszurichten, dass Bierkamp mich zu sehen wünsche. Prill hatte mir bereits Fragen nach der Lektüre meines Berichts gestellt: Ich hatte mich geweigert, sie zu beantworten, und gesagt, das gehe nur den Kommandeur an. Bierkamp empfing mich höflich, bat mich, Platz zu nehmen, und fragte mich, was sich zugetragen habe; auch Thielecke nahm an der Unterredung teil. Ich schilderte ihnen den Zwischenfall so objektiv wie möglich. »Und was sollte Ihrer Meinung nach geschehen?«, fragte Thielecke, als ich fertig war. »Ich meine, Sturmbannführer, er gehört vor das SS-Gericht oder zumindest in die Psychiatrie.« – »Sie übertreiben«, sagte Bierkamp. »Hauptsturmführer Turek ist ein ausgezeichneter Offizier, sehr befähigt. Seine Empörung und Wut auf die Juden, die Träger des stalinistischen Systems, ist nur allzu verständlich. Und dann geben Sie selbst zu, dass Sie erst gegen Ende des Zwischenfalls hinzugekommen sind. Zweifellos ist eine Provokation vorausgegangen.« – »Selbst wenn diese Juden unverschämt geworden sind oder einen Fluchtversuch unternommen haben, ist seine Reaktion eines SS-Offiziers unwürdig. Vor allem vor den Mannschaften.« – »In dem Punkt haben Sie zweifellos Recht.« Thielecke und er blickten sich einen Moment an, dann wandte er sich an mich: »Ich habe ohnehin vor, in einigen Tagen nach Pjatigorsk zu fahren. Dort rede ich selbst mit Hauptsturmführer Turek über den Zwischenfall. Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mich von den Vorkommnissen in Kenntnis gesetzt haben.«
    Am selben Tag traf Sturmbannführer Dr. Leetsch, der Nachfolger von Dr. Seibert, in Begleitung des Obersturmbannführers Paul Schultz ein, der Dr. Braune in Maikop ablösen sollte; doch noch bevor ich ihn zu sehen bekam, forderte Prill mich auf, nach Mosdok aufzubrechen und das Sk 10b zu inspizieren, das dort gerade eingetroffen war. »So haben Sie dann alle Kommandos gesehen«, sagte er. »Bei Ihrer Rückkehr erstatten Sie dem Sturmbannführer Bericht.« Nach Mosdok über Minwody und Prochladny musste man mit etwa sechs Stunden Fahrzeit rechnen; daher setzte ich die Abfahrt auf den nächsten Morgen fest, sah aber Leetsch nicht mehr. Mein Fahrer weckte mich kurz vor dem Morgengrauen. Wir hatten die Hochebene von Woroschilowsk schon hinter uns, als die Sonne aufging, Felder und Obstgärten in ein sanftes Licht tauchte und in der Ferne die ersten Vulkane der KMW erkennen ließ. Hinter Mineralnyje Wody führte die von Linden gesäumte Straße an den Ausläufern der Kaukasus-Kette entlang, die noch immer kaum sichtbar war; nur die gerundeten schneebedeckten Formen des Elbrus tauchten im Grau des Himmels auf. Nördlich der Straße erstreckten sich Felder, in denen hier und da ärmliche moslemische Dörfer lagen. Wir fuhren hinter den Lkws langer Nachschubkolonnen her, die schwer zu überholen waren. In Mosdok herrschte hektische Unruhe, der militärische Verkehr verstopfte die staubigen Straßen; ich ließ den Opel stehen und machte mich zu Fuß auf die Suche nach dem Stab des LII. Korps. Ich wurde von einem äußerst erregten Abwehroffizier in Empfang genommen: »Haben Sie nicht gehört? Heute Morgen ist Generalfeldmarschall List geschasst worden.« – »Warum das denn?!«, rief ich aus. List, der neu an der Ostfront war, hatte gerade zwei Monate überstanden. Der AO zuckte die Achseln: »Wir mussten den Rückzug antreten, nachdem unser Durchbruchsversuch am rechten Ufer des Terek gescheitert war. Das ist höheren Orts übel vermerktworden.« – »Warum konnten wir nicht vorrücken?« Er hob die Arme: »Ganz einfach, wir hatten nicht genügend Kräfte! Die Zweiteilung der Heeresgruppe Süd war ein verhängnisvoller Fehler. Jetzt haben wir weder für das eine noch das andere Ziel ausreichend Kräfte. In Stalingrad hängen sie noch immer in den Vororten fest.« – »Und wer ist anstelle des Feldmarschalls ernannt worden?« Er lachte laut auf und sagte: »Sie werden es nicht glauben: Der Führer hat den Oberbefehl selbst übernommen!« Das war in der Tat unglaublich: »Der Führer hat persönlich den Oberbefehl über die Heeresgruppe A übernommen?« – »Genau das. Ich weiß nicht, wie er das anstellen will; der Stab der Heeresgruppe bleibt in Woroschilowsk, und der

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