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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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nahm bei mir Maß, ich bestellte bei ihm einen langen grauen Mantel mit Astrachankragen und Lammfellfutter, ein Kleidungsstück, das die Russen Schuba nennen, und ein Paar Pelzstiefel; was die Schapka anging (die vom Vorjahr war schon lange verschwunden), so besorgte ich mir eine auf dem Werchni rynok , eine aus Silberfuchs. Zahlreiche Offiziere der Waffen-SS hatten die Gewohnheit angenommen, sich das Totenkopfemblem auf ihre vorschriftswidrigen Schapkas zu nähen; ich fand das ein bisschen affektiert, entfernte dafür aber die Schulterstücke und ein SD-Abzeichen von einem meiner Waffenröcke und ließ sie auf den Mantel nähen.
    Die Übelkeits- und Brechanfälle überfielen mich wieder in unregelmäßigen Abständen, und Angstträume begannen mein Leiden zu verschlimmern. Häufig blieben sie in undurchdringliches Dunkel gehüllt, der Morgen löschte alle Bilder, und es blieb nur ein beklemmender Druck. Manchmal riss diese Dunkelheit aber auch auf, und blitzartig enthüllten sich mir Wahngebilde des Schreckens in aller Deutlichkeit. So öffnete ich zwei oder drei Nächte nach meiner Rückkehr ausNaltschik fatalerweise eine Tür: In einem düsteren leeren Zimmer hockte Voss auf allen vieren, den Hintern entblößt; flüssige Scheiße lief ihm aus dem After. Besorgt ergriff ich Papier, Seiten der Iswestija , und bemühte mich, die braune Flüssigkeit abzuwischen, die immer dunkler und dicker wurde. Ich versuchte, mir die Hände nicht schmutzig zu machen, aber das war unmöglich, fast schwarzes Pech bedeckte die Blätter und meine Finger, dann meine ganze Hand. Krank vor Ekel, lief ich zu einer Badewanne, um mir die Hände zu waschen; aber unterdessen floss es immer weiter. Beim Aufwachen strengte ich mich an, diese scheußlichen Bilder zu verstehen; aber ich war wohl noch nicht ganz wach, denn meine Gedanken, die mir damals vollkommen klar erschienen, blieben ebenso verworren wie die Bedeutung der Bilder: Tatsächlich schienen mir einige Anhaltspunkte darauf hinzudeuten, dass diese Personen für andere standen, dass der Mann auf allen vieren ich sein musste und der, der abwischte, mein Vater. Und wovon mochten die Artikel der Iswestija handeln? Hatte es da nicht eine – möglicherweise endgültige – Stellungnahme zur Tatenfrage gegeben? Die Sendung der Abteilung VII B I, abgeschickt von einem gewissen Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Füsslein, war nicht gerade dazu angetan, mir aus meinem Pessimismus zu helfen; der Eifer des Oberkriegsverwaltungsrats hatte sich nämlich einfach darauf beschränkt, Auszüge aus der Jüdischen Enzyklopädie zusammenzustellen. Es waren höchst gelehrte Beiträge, doch leider wurde aus den widersprüchlichen Meinungen keine Schlussfolgerung gezogen. So erfuhr ich von den ersten Erwähnungen der kaukasischen Juden bei Benjamin von Tudela, der dieses Gebiet um 1170 bereiste, und bei Petachja von Regensburg, der behauptete, sie seien persischen Ursprungs und im 12. Jahrhundert in den Kaukasus gekommen. Wilhelm von Rubruk hatte 1254 einen großen jüdischen Volksstamm im Osten des Gebirgsmassivs, vor Astrachan, angetroffen.Doch ein georgischer Text aus dem Jahr 314 erwähnte Hebräisch sprechende Juden, die nach der persischen Besetzung Transkaukasiens die alte iranische (»parsische« oder »tatische«) Sprache übernommen hätten, wobei sie sie mit dem Hebräischen und mit regionalen Sprachen vermischten. Nun sprechen die georgischen Juden aber, die laut Koch Huria heißen (vielleicht von »Iberia« abgeleitet), nicht Tatisch, sondern einen kartwelischen Dialekt. In Dagestan sollen nach der Handschrift Derbend-Nameh die Araber bereits im 8. Jahrhundert bei ihrer Eroberung Juden angetroffen haben. Die zeitgenössischen Forscher komplizierten den Sachverhalt noch zusätzlich. Es war zum Verzweifeln; ich entschloss mich, das Ganze kommentarlos Bierkamp und Leetsch zuzuschicken und darauf zu drängen, so bald wie möglich einen Spezialisten hinzuzuziehen.
    Der Schneefall setzte eine Weile aus und begann dann wieder. In der Messe unterhielten sich die Offiziere mit gedämpften Stimmen und voller Unruhe: Rommel war von den Engländern bei El-Alamein geschlagen worden, einige Tage später waren die Engländer und Amerikaner in Nordafrika gelandet; unsere Truppen hatten als Vergeltungsmaßnahme gerade die Freie Zone Frankreichs besetzt; doch das hatte die Vichy-Streitkräfte in Afrika veranlasst, sich den Alliierten anzuschließen. »Wenn es nur hier besser liefe«, meinte Gilsa. Doch vor

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