Die Wohlgesinnten
einen höheren Offizier, den sie grüßen musste. Nur ein einziges Mal zeigte sie eine wirkliche Reaktion – als der junge Leutnant von Open vor ihren Schreibtisch trat, die Hacken zusammenschlug und sich mit folgenden Worten an sie wandte: »Gestatten Sie mir, Fräulein Weseloh, Sie in unserem Kaukasus willkommen …« Sie hob den Kopf und unterbrach ihn: »Fräulein Doktor Weseloh, wenn ich bitten darf.« Open, aus der Fassung gebracht, errötete und stammelte eine Entschuldigung; das Fräulein Doktor war jedoch längst zu seiner Lektüre zurückgekehrt. Ich hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken angesichts dieser affektierten und puritanischen alten Jungfer, die dessen ungeachtet weder unintelligent noch ohne menschliche Anwandlungen war. Ich bekam meinerseits eine Kostprobe ihres unliebenswürdigen Charakters ab, als ich mit ihr über die Ergebnisse ihrer Lektüre sprechen wollte. »Ich verstehe nicht, warum ich hierherbeordert wurde«, schnaubte sie mit gestrenger Miene. »Die Angelegenheit scheint mir klar zu sein.« Ich ermutigte sie fortzufahren. »Die Frage der Sprache hat nicht die geringste Bedeutung. Die der Sitten schon mehr, aber nicht sonderlich. Wenn es Juden sind, bleiben sie es trotz aller Assimilierungsversuche, genau wie die deutschen Juden, die Deutsch sprachen und sich wie abendländische Bürger kleideten, aber unter ihrer gestärkten Hemdbrust Juden blieben und niemanden hinters Licht führten. Öffnen Sie den Hosenstall eines jüdischen Industriellen in Nadelstreifen«,fuhr sie rüde fort, »und Sie finden einen Beschnittenen darunter. Hier wird es genauso sein. Ich begreife nicht, warum man sich den Kopf darüber zerbricht.« Ich ging nicht auf die sprachliche Entgleisung ein, die mich vermuten ließ, dass dieses so kühle Fräulein Doktor schlammig trübe Tiefen verbarg, die von heftig bewegten Strudeln aufgewühlt wurden, sondern begnügte mich mit dem Hinweis, dass mir angesichts der moslemischen Praxis dieser Anhaltspunkt wenig überzeugend erscheine. Sie betrachtete mich mit noch größerer Verachtung: »Das war eine Metapher, Hauptsturmführer. Für wen halten Sie mich? Ich will damit sagen, dass diese Leute, egal in welcher Umgebung, immer Fremdkörper bleiben. Ich werde Ihnen an Ort und Stelle zeigen, was ich meine.«
Die Temperatur fiel zusehends, und mein Pelzmantel war noch immer nicht fertig. Reuter hatte für Weseloh einen Mantel aufgetrieben, der zwar etwas groß, aber gefüttert war; für die Geländeerkundungen hatte ich wenigstens meine Schapka . Aber selbst die missbilligte sie: »Dieses Kleidungsstück entspricht doch wohl nicht der Vorschrift, Hauptsturmführer?«, sagte sie, als sie mich die Mütze aufsetzen sah. »Die Anzugsordnung ist vor unserem Einmarsch in Russland abgefasst worden«, teilte ich ihr höflich mit. »Sie ist noch nicht aktualisiert worden. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihr Wehrmachtsmantel auch nicht vorschriftsmäßig ist.« Sie zuckte die Achseln. Während sie die Dokumentation durchgearbeitet hatte, hatte ich versucht, nach Woroschilowsk zu fahren, in der Hoffnung, dort Gelegenheit zu einem Treffen mit Jünger zu bekommen; doch das war nicht möglich gewesen, ich hatte mich abends in der Messe mit Weselohs Kommentaren zufriedengeben müssen. Jetzt sollte ich sie nach Naltschik fahren. Unterwegs erwähnte ich Vossens Anwesenheit und seine Mitwirkung im Wehrmachtsausschuss. »Dr. Voss?«, sagte sie nachdenklich.»Der ist in der Tat ein recht bekannter Spezialist. Doch seine Arbeiten werden in Deutschland ziemlich kritisiert. Trotzdem wäre es interessant, ihn kennenzulernen.« Auch mir war sehr daran gelegen, Voss wiederzusehen, allerdings unter vier Augen und schon gar nicht in Gegenwart dieser nordischen Megäre; ich wollte die Unterhaltung von neulich fortsetzen; außerdem hatte mich, wie ich mir eingestehen musste, mein Traum verstört, und ich dachte, dass mir ein Gespräch mit Voss, in dem ich diese scheußlichen Bilder natürlich nicht erwähnen würde, helfen könnte, bestimmte Dinge zu klären. In Naltschik ging ich zunächst zur Dienststelle des Sonderkommandos. Persterer war nicht da, aber ich machte Weseloh mit Wolfgang Reinholz bekannt, einem Offizier des Kommandos, der ebenfalls mit der Frage der Bergjuden befasst war. Reinholz berichtete uns, dass die Experten der Wehrmacht und des Ostministeriums schon da gewesen seien. »Sie haben sich mit dem alten Schabajew getroffen, der die Bergjuden mehr oder weniger
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