Die Wohlgesinnten

Einschlag betrifft in erster Linie das religiöse Vokabular, und auch das nicht systematisch: Sie bezeichnen die Synagoge als Nimas, das jüdische Ostern als Nisanu und das Purimfest als Homonu; das sind alles persische Namen. Bevor die Sowjets an die Macht kamen, schrieben sie ihre persische Sprache mit hebräischen Buchstaben, doch nach ihrer Auskunft haben diese Bücher die Reformen nicht überstanden. Heute wird das Tatische mit lateinischen Buchstaben geschrieben: In Dagestan veröffentlichen sie Zeitungen und unterrichten ihre Kinder in dieser Schreibweise. Wenn sie aber wirklich Chaldäer wären oder Juden, die, wie einige meinen, nach der Zerstörung des Ersten Tempels hierhergekommen sind, müssten sie logischerweise einen Dialekt sprechen, der sich vomMitteliranischen herleitet, also verwandt mit dem Pehlewi aus der Zeit der Sassaniden ist. Doch die tatische Sprache ist ein neuiranischer Dialekt, also nach dem 10. Jahrhundert entstanden und verwandt mit dem Dari, dem Belutschischen oder dem Kurdischen. Ohne dass wir die Tatsachen entstellen, können wir auf eine relativ junge Einwanderung schließen, auf die dann eine Konversion folgte. Doch wenn man will, kann man auch das Gegenteil beweisen. Allerdings begreife ich nicht, was all das mit der Sicherheit unserer Truppen zu tun haben könnte. Man müsste doch auch in der Lage sein, objektiv, auf der Grundlage von Tatsachen, über ihre Haltung uns gegenüber zu urteilen?« – »Es handelt sich einfach um ein rassisches Problem«, erwiderte ich. »Wir wissen, dass es rassisch minderwertige Gruppen gibt, unter anderem die Juden, mit ausgeprägten Merkmalen, die sie für bolschewistische Verderbtheit, Diebstahl, Mord und viele andere schändliche Handlungsweisen empfänglich machen. Natürlich gilt das nicht für alle Mitglieder der Gruppe. Doch in Kriegszeiten, als Besatzungsmacht mit begrenzten Möglichkeiten, können wir nicht im Einzelfall entscheiden. Daher müssen wir die Risikogruppen in ihrer Gesamtheit betrachten und pauschal reagieren. So kommt es zu großen Ungerechtigkeiten, aber das liegt an der Ausnahmesituation.« Voss schaute bitter und traurig in seinen Kaffee. »Ich habe Sie immer für einen intelligenten und vernünftigen Menschen gehalten, Aue. Selbst wenn wahr wäre, was Sie mir da sagen, so erklären Sie mir doch bitte, was Sie unter Rasse verstehen. Denn für mich ist das ein wissenschaftlich undefinierbares Konzept und daher ohne theoretischen Wert.« – »Trotzdem gibt es die Rasse, das ist eine Wahrheit, unsere größten Gelehrten haben sich mit dem Thema beschäftigt und darüber geschrieben. Das wissen Sie sehr gut. Unsere Rassenanthropologen sind die besten der Welt.« Plötzlich explodierte Voss: »Das sind Scharlatane. Sie haben überhaupt keine Konkurrenzin zivilisierten Ländern, weil ihre Disziplin dort nicht gelehrt wird. Ohne den politischen Rückhalt hätten sie weder eine Anstellung, noch würden sie publiziert!« – »Ich halte viel von Ihrer Meinung, Voss, aber jetzt gehen Sie doch ein wenig zu weit, meinen Sie nicht?«, sagte ich ruhig. Voss schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Tassen und künstlichen Blumen hüpften; einige Köpfe drehten sich bei dem Lärm und der lauten Stimme um. »Diese Veterinärphilosophie, wie Herder sagte, hat der Sprachwissenschaft, der bis heute einzigen Geisteswissenschaft, die eine wirklich wissenschaftliche Basis hat, ihre Begriffe geraubt. Verstehen Sie« – er hatte die Stimme gesenkt und sprach schnell und zornig –, »wissen Sie überhaupt, was eine wissenschaftliche Theorie ist? Eine Theorie ist keine Tatsache: Sie ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich Hypothesen entwickeln und Vorhersagen ableiten lassen. Man sagt, eine Theorie sei gut, wenn sie erstens relativ einfach ist und wenn sie zweitens verifizierbare Vorhersagen zulässt. Mit der Newton’schen Physik lassen sich die Bahnen der Himmelskörper berechnen: Wenn man die Positionen von Erde und Mars im Abstand von mehreren Monaten misst, befinden sich beide noch exakt dort, wo sie sich laut den Vorhersagen der Newton’schen Theorie befinden müssen. Andererseits zeigt sich, dass die Bahn des Merkur leichte Unregelmäßigkeiten aufweist, die von der durch Newtons Theorie vorhergesagten Bahn abweichen. Einsteins Relativitätstheorie dagegen sagt diese Abweichungen exakt vorher: Folglich ist sie besser als Newtons Theorie. Doch in Deutschland, das einst weltweit führend in der Wissenschaft war, wird Einsteins