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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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es auf das Tischtuch legte. Dann trug Schabajews Frau Schalen mit Quark, Dörrobst und Bonbons in Silberpapier herein. Schabajew zerriss eines der Brote und verteilte die Stücke an uns: Es war noch warm, kross, köstlich. Ein anderer alter Mann in Papacha und weichen Stiefeletten trat ein und setzte sich neben Schabajew, dann noch einer. Schabajew stellte sie vor. »Er sagt, der links sei ein moslemischer Tate«, erläuterte Weseloh. »Die ganzeZeit versucht er, mir zu sagen, dass nur bestimmte Taten der jüdischen Religion angehören. Ich werde ihn fragen.« Sie begann ein langes Palaver mit dem zweiten Greis. Etwas gelangweilt knabberte ich an meinem Brot und sah mich in dem Zimmer um. Die Wände waren jungfräulich kahl und schienen frisch gekalkt zu sein. Die Kinder lauschten und beäugten uns schweigend. Schabajews Frau und das junge Mädchen brachten gekochtes Hammelfleisch mit Knoblauchsoße und Mehlklößen. Ich begann zu essen; Weseloh setzte ihr Gespräch fort. Dann wurden Schaschliks aus gehacktem Hühnerfleisch aufgetragen, die man auf einem der Brote aufhäufte; Schabajew zerriss die anderen und verteilte die Stücke als Teller, dann schnitt er uns mit einem langen kaukasischen Dolch, einem Kinshal , die Fleischklöße direkt vom Spieß ab. Außerdem gab es mit Reis und Fleisch gefüllte Weinblätter. Ich zog sie dem Kochfleisch vor und langte kräftig zu; Reinholz tat es mir nach, während Weseloh, von Schabajew offenbar mit Klagen überhäuft, gar nichts aß. Auch Schabajews Frau hatte sich zu uns gesetzt und hielt uns mit ausholenden Gesten die Appetitlosigkeit Fräulein Weselohs vor. »Fräulein Doktor«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu ihr, »fragen Sie sie doch, wo sie schlafen.« Weseloh palaverte jetzt mit Schabajews Frau. »Sie sagt«, antwortete sie schließlich, »hier, direkt auf dem Fußboden, auf dem Holz.« – »Nach meiner Ansicht lügt sie«, meinte Reinholz. »Sie sagt, früher hätten sie Matratzen gehabt, aber die Bolschewiken hätten ihnen alles vor dem Rückzug weggenommen.« – »Das könnte stimmen«, sagte ich zu Reinholz; er biss in sein Schaschlik und begnügte sich mit einem Achselzucken. Das junge Mädchen goss uns ständig heißen Tee nach, wobei sie sich einer merkwürdigen Technik bediente: Zunächst schenkte sie aus einer kleinen Teekanne eine schwarze Brühe ein, dann goss sie sie mit heißem Wasser auf. Als wir mit Essen fertig waren, räumten die Frauen die Reste ab und nahmen das Wachstuchfort; Schabajew ging hinaus und kam mit einigen Männern mit Instrumenten zurück, die er an der Wand Platz nehmen ließ, der Ecke mit den Kindern gegenüber. »Er sagt, jetzt hören wir traditionelle tatische Musik und sehen ihre Tänze, um uns davon zu überzeugen, dass es die gleichen sind wie bei den anderen Bergvölkern«, erläuterte Weseloh. Zu den Instrumenten gehörten banjoähnliche Saiteninstrumente mit langen Hälsen, so genannte Tars , andere mit kürzeren Hälsen, Sas – ein türkisches Wort, stellte Weseloh klar, um der wissenschaftlichen Genauigkeit Genüge zu tun –, ein Tontopf, in den man mit einem Schilfrohr blies, und Handtrommeln. Sie spielten mehrere Stücke, und das junge Mädchen, das uns aufgetragen hatte, führte uns Tänze vor, ziemlich schlicht, aber anmutig und äußerst biegsam. Die anderen Männer schlugen den Takt mit den Rhythmusspielern. Weitere Besucher traten ein, setzten sich oder lehnten sich an die Wände, die Frauen mit langen Röcken, Kinder zwischen ihren Beinen, die Männer in den Trachten der Bergvölker, in abgetragenen Anzügen oder noch in den Kitteln und Ballonmützen der sowjetischen Arbeiter. Eine der Frauen stillte einen Säugling, ohne ihre Brust allzu sehr zu verhüllen. Ein junger Mann zog seine Jacke aus und begann ebenfalls zu tanzen. Er war schön, rassig, elegant, stolz. Musik und Tänze hatten große Ähnlichkeit mit denen der Karatschaier, wie ich sie in Kislowodsk gesehen hatte; die meisten Stücke, deren synkopierte Rhythmen in meinen Ohren sehr fremd klangen, waren von ansteckender Fröhlichkeit. Einer der alten Musiker sang ein langes Klagelied, begleitete sich nur mit einer Art Banjo, dessen zwei Saiten er mit einem Plektron schlug. Das Essen und der Tee hatten mich in einen friedlichen, fast schläfrigen Zustand versetzt, ich überließ mich der Musik, fand die Szene pittoresk und die Leute sehr freundlich, sehr sympathisch. Als die Musik verstummte, hielt Schabajew so etwas wie eine Rede, die Weseloh nicht

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