Die Wohlgesinnten
auf uns zu: »Ja?« – »Er möchte Leutnant Voss besuchen«, erklärte der Offizier, wobei er auf mich wies. »Ich geh dann wieder«, sagte er. »Hab zu tun.« – »Danke«, sagte ich. »Kommen Sie!«, forderte mich der Arzt auf. »Wir haben ihn separat gelegt.« Er führte mich zu einer Tür am Ende des Saals. »Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte ich. »Er wird Sie nicht hören«, erwiderte der Arzt. Er öffnete die Tür und ließ mir den Vortritt. Voss lag unter einem Betttuch, das Gesicht feucht und grünlich. Seine Augen waren geschlossen, er stöhnte leise vor sich hin. Ich trat näher. »Voss«, sagte ich. Keine Reaktion. Nur diese Laute kamen weiter aus seinem Mund, nicht eigentlich ein Stöhnen, eher artikulierte, aber unverständliche Töne, wie Kindergeplapper, die Übersetzung dessen, was in seinem Inneren vorging, in eine private und geheimnisvolle Sprache. Ich wandte mich an den Arzt: »Kommt er durch?« Der Arzt schüttelte den Kopf: »Ich begreife noch nicht einmal, wie er es so lange geschafft hat. Wir haben nicht operieren können, es wäre sinnlos gewesen.« Ich wandte mich Voss zu. Ununterbrochen drangen die Laute aus ihm hervor, eine Beschreibung seines Todeskampfes diesseits der Sprache. Ich war wie gelähmt, hatte Mühe zu atmen, wie in einem Traum, in dem jemand spricht und man nichts versteht. Doch hier gab es nichts zu verstehen. Ich schob eine Haarsträhne zurück, die ihm über das Augenlid gefallen war. Er schlug die Augen auf und blickte mich an, aber in seinen Augen war nicht das geringste Erkennen. Er hatte jenen privaten, unzugänglichen Ort erreicht,von dem aus man zwar niemals mehr an die Oberfläche zurückkehrt, der aber noch vor dem endgültigen Sturz in die Tiefe liegt. Wie ein Tier wehrte sich sein Körper gegen das, was ihm widerfuhr, und auch die Laute waren die eines Tieres. Von Zeit zu Zeit brachen sie ab, dann holte er keuchend Luft, mit einem Geräusch, als sauge er eine Flüssigkeit durch die Zähne. Anschließend begann es erneut. Ich sah den Arzt an: »Er hat Schmerzen. Können Sie ihm kein Morphium geben?« Der Arzt machte ein verlegenes Gesicht: »Hat er schon bekommen.« – »Ja, aber er braucht mehr.« Ich blickte ihm direkt in die Augen; er zögerte, klopfte sich mit einem Fingernagel gegen die Zähne. »Ich habe fast keins mehr«, sagte er schließlich. »Wir mussten unseren gesamten Vorrat nach Millerowo an die 6. Armee schicken. Was ich noch habe, muss ich für die operablen Fälle reservieren. Er stirbt sowieso bald.« Unverwandt hielt ich meinen Blick auf ihn gerichtet. »Sie haben mir keine Befehle zu geben«, fügte er hinzu. »Ich gebe Ihnen keine Befehle, ich bitte Sie«, sagte ich kalt. Er wurde blass. »Schon gut, Herr Hauptsturmführer. Sie haben ja Recht … Ich gebe ihm was.« Ich rührte mich nicht, lächelte nicht. »Also dann jetzt … Ich bleibe so lange.« Ein kurzes Zucken entstellte die Lippen des Arztes. Er ging hinaus. Ich betrachtete Voss: Unablässig drangen die fremdartigen, erschreckenden Laute – wie verselbstständigt – aus seinem Mund, der krampfhaft arbeitete. Eine archaische Stimme, aus dem Dunkel der Zeit; doch falls es eine Sprache war, hatte sie keinerlei Bedeutung und drückte nichts aus als ihr eigenes Verschwinden. Der Arzt kam mit einer Spritze zurück, entblößte Vossens Arm, klopfte in die Armbeuge, um die Vene hervortreten zu lassen, und führte die Nadel ein. Nach und nach wurden die Pausen zwischen den Lauten länger, seine Atmung wurde ruhiger. Seine Augen waren wieder verschlossen. Von Zeit zu Zeit kam noch ein weiterer Schwall dieser Laute, wie eine letzte Boje, die über Bordgeworfen wird. Der Arzt war wieder hinausgegangen. Leicht fuhr ich mit dem Fingerrücken über Vossens Wange, dann ging auch ich. Der Arzt machte sich im Krankensaal zu schaffen, voller Groll und zugleich verlegen. Ich dankte ihm kühl, schlug die Hacken zusammen und hob den Arm. Er erwiderte den Gruß nicht, und ich ging wortlos hinaus.
Ein Wagen der Wehrmacht brachte mich zum Sonderkommando zurück. Dort fand ich Weseloh und Reinholz noch immer in ihre Diskussion vertieft, Reinholz brachte Argumente für den türkischen Ursprung der Bergjuden vor. Er unterbrach sich, als er mich sah: »Ah, Hauptsturmführer. Wir haben uns schon gefragt, wo Sie bleiben. Ich habe Ihnen eine Unterkunft vorbereiten lassen. Es ist zu spät für die Rückfahrt.« – »Ich muss ohnehin hierbleiben«, sagte Weseloh, »um meine Untersuchungen fortzusetzen.«
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