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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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über die uralten Beziehungen zwischen dem kabardischen, balkarischen und tatischen Volk hielt, Beziehungen, die auf guter Nachbarschaft, gegenseitiger Hilfe, Freundschaft und gelegentlich sogar Heirat beruhten. Er war etwas korpulent, trug einen Zweireiher aus schimmerndem Stoff, einen üppigen Schnurrbart, der seinem etwas schlaffen Gesicht einen Anstrich von Straffheit verlieh, und sprach ein langsames und hochtrabendes Russisch; Köstring übersetzte selbst. Nach Schadows Rede stand Köstring auf und versicherte ihm auf Russisch (dieses Mal von einem Dolmetscher für uns übersetzt), dass die Meinung des Rates berücksichtigt und die Frage hoffentlich zur Zufriedenheit aller gelöst werde. Ich betrachtete Bierkamp, der vier Plätze von Korsemann entfernt auf der anderen Seite des Tisches saß: Er hatte die Mütze neben seine Papiere auf den Tisch gelegt und trommelte mit den Fingern, als er Köstring zuhörte, während Korsemann mit seinem Füller an einem Splittereinschlag herumkratzte. Nach Köstrings Erwiderung wurde Schadow wieder hinausgeschickt, und der General setzte sich, ohne auf die Reden einzugehen. »Ich schlage vor, dass wir mit den Vorträgen der Fachleute anfangen«, sagte er. »Dr. Bräutigam?« Bräutigam wies auf den Mann links von mir, einen Zivilisten von gelblicher Hautfarbe mit einem kleinen hängenden Schnurrbart und fettigem Haar, das sorgfältig gekämmtund – wie seine Schultern, die er immer wieder nervös abklopfte – dicht mit Schuppen bepudert war. »Ich möchte Ihnen Dr. Rehrl vorstellen, einen Fachmann für das Ostjudentum am Frankfurter Institut für Judenfragen .« Rehrl hob den Hintern ein wenig vom Stuhl und deutete eine Verbeugung an, bevor er mit monotoner und näselnder Stimme begann: »Ich glaube, dass wir es hier mit den Restbeständen eines Turkvolks zu tun haben, das beim Übertritt des chasarischen Adels die mosaische Religion annahm und später, bei der Vernichtung des Chasarenreichs im 10. oder 11. Jahrhundert, in den Osten des Kaukasus flüchtete. Dort haben sie sich durch Heirat mit einem iranisch sprechenden Bergvolk, den Taten, vermischt, woraufhin ein Teil der Gruppe zum Islam übertrat, während die anderen an einem Judentum festhielten, das nach und nach immer mehr verfälscht wurde.« Er begann die Beweise aufzuzählen: Zunächst einmal seien die tatischen Wörter für Essen, Menschen und Tiere, also die wichtigste Grundlage der Sprache, überwiegend türkischen Ursprungs. Dann rekapitulierte er das wenige, was über die Geschichte der chasarischen Konversion bekannt war. Da gab es durchaus interessante Punkte, doch seine Ausführungen waren ziemlich sprunghaft, man konnte ihm nur mühsam folgen. Trotzdem beeindruckte mich sein Argument hinsichtlich der Eigennamen: Bei den Bergjuden würden jüdische Feste wie Chanukka oder Pessach als Eigennamen benutzt, beispielsweise in der russifizierten Form Chanukajew, eine Verwendungsweise, die weder bei den Aschkenasim noch den Sephardim anzutreffen, bei den Chasaren aber eindeutig belegt sei: So komme der Eigenname Chanukka zweimal im Kiewer Brief vor, einem Anfang des 10. Jahrhunderts auf Hebräisch abgefassten Empfehlungsschreiben der chasarischen Gemeinde dieser Stadt; einmal auf einer Grabplatte auf der Krim und ein weiteres Mal im Verzeichnis der chasarischen Könige. Für Rehrl waren die Bergjuden also trotzihrer Sprache vom rassischen Standpunkt aus eher den Nogaiern, Kumüken und Balkaren zu assimilieren als den Juden. Nun ergriff der Leiter der Wehrmachtskommission, ein gewisser Weintrop, ein Offizier mit hochrotem Gesicht, das Wort: »Meine Ansicht ist nicht ganz so entschieden wie die meines geschätzten Kollegen. Nach meiner Auffassung sind die Spuren eines jüdisch-kaukasischen Einflusses auf diese viel beschworenen Chasaren – über die man übrigens wenig weiß – ebenso zahlreich wie die Belege für einen entgegengesetzten Einfluss. Beispielsweise heißt es in dem Dokument, das als Brief eines Anonymus von Cambridge bekannt ist und ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert stammen dürfte: Die armenischen Juden haben sich mit den Bewohnern dieses Landstrichs – er meint die Chasaren – durch Heirat verbunden, mit den Edelleuten vermischt, sich deren Sitten zu eigen gemacht und sind ständig mit ihnen in den Krieg hinausgezogen; und sie sind ein einzig Volk geworden. Der Verfasser spricht von den Juden des Mittleren Ostens und den Chasaren: Wenn er Armenien sagt, meint er nicht das moderne Armenien, das

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