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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ausgezeichnete Talmudkenntnisse besaßen …« – »Die haben sie längst vergessen!«, warf Weintrop ein. »Vollkommen richtig, das ändert aber nichts daran, dass es eine Zeit gab, in der die Talmudisten aus Derbent und aus Schemacha in Aserbaidshan großes Ansehen genossen. Was übrigens eine späte Entwicklung sein könnte: In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam nämlich ein jüdischerReisender, ein gewisser Judas Tschorny, zu der Überzeugung, die Juden seien nicht nach, sondern schon vor der Zerstörung des Ersten Tempels in den Kaukasus gelangt und hätten dort in völliger Abgeschiedenheit und unter persischem Schutz bis zum 4. Jahrhundert gelebt. Erst viel später, als die Tataren in Persien einfielen, seien die Bergjuden den Juden aus Babylon begegnet, die sie im Talmud unterrichtet hätten. In dieser Zeit erst hätte man die Tradition der rabbinischen Unterweisung übernommen. Aber das ist nicht bewiesen. Um Belege für ihre Alteingesessenheit zu finden, müssten wir uns wohl eher an die archäologischen Spuren halten, etwa die verlassenen Ruinen von Aserbaidshan, die man Schifut Tebe , ›Hügel der Juden‹, oder Schifut Kabur , ›Grab der Juden‹, nennt. Sie sind sehr alt. Was die Sprache angeht, so bestätigen Dr. Weselohs Beobachtungen die des toten Dr. Voss: Es handelt sich um einen modernen westiranischen Dialekt – entstanden, ich denke, nicht vor dem 8., 9. oder sogar 10. Jahrhundert –, was gegen eine direkte chaldäische Abstammung zu sprechen scheint, wie sie Pantjukow in Anlehnung an Quatrefages postuliert. Quatrefages meinte übrigens, die Lesgier, einige Swanen und die Chewsuren seien ebenfalls jüdischen Ursprungs; auf Georgisch heißt Chewis Uria ›der Jude aus dem Tal‹. Glaubhafter ist die Annahme des Freiherrn Peter von Uslar, wonach zweitausend Jahre lang Juden regelmäßig und häufig in den Kaukasus einwanderten und sich dabei den einheimischen Völkerschaften mehr oder weniger eingliederten. Das Problem der Sprache könnte seine Erklärung darin haben, dass die Juden Frauen mit einem iranischen Stamm, den später zugewanderten Taten, getauscht haben; sie selbst sollen zur Zeit der Achämeniden als Wehrsiedler gekommen sein, um das Tor von Derbent gegen die Steppennomaden aus dem Norden zu verteidigen.« – »Juden als Wehrsiedler?«, warf ein Oberst vom AOK ein. »Das erscheint mir lächerlich.« – »Nicht unbedingt«, erwiderte Bräutigam. »Vor derDiaspora hatten die Juden eine lange kriegerische Tradition. Man braucht nur in der Bibel nachzulesen. Und bedenken Sie, welchen Widerstand sie den Römern geleistet haben.« – »Ach ja, so steht’s bei Flavius Josephus«, fügte Korsemann hinzu. »Genau, Herr Brigadeführer«, bestätigte Bräutigam. »Kurzum«, ich ergriff wieder das Wort, »alle diese Fakten zusammen genommen sprechen offenbar gegen eine chasarische Herkunft. Vielmehr scheint Wsewolod Millers Hypothese, dass die Bergjuden die Chasaren zum Judentum bekehrt hätten, plausibler zu sein.« – »Das ist genau das, was ich gesagt habe«, sagte Weintrop. »Aber mit Ihrem sprachwissenschaftlichen Argument leugnen Sie doch auch nicht die Möglichkeit der ›Durchmischung‹.« – »Es ist wirklich zu schade, dass Dr. Voss nicht mehr unter uns ist«, meinte Köstring. »Er hätte uns diesen Punkt sicherlich erläutert.« – »Ja«, meinte Gilsa bedrückt. »Wir bedauern es sehr. Es ist ein großer Verlust.« – »Auch die deutsche Wissenschaft zollt dem Kampf gegen den Judäo-Bolschewismus einen hohen Tribut«, verkündete Rehrl salbungsvoll. »Schon, aber im Falle des armen Voss handelt es sich wohl eher um ein Missverständnis, sagen wir, kultureller Art«, gab Bräutigam zu bedenken. »Meine Herren, ich darf doch bitten«, unterbrach sie Köstring. »Wir kommen von unserem Thema ab. Herr Hauptsturmführer?« – »Danke, Herr General. Leider hilft uns die biologische Anthropologie nicht recht, zwischen den verschiedenen Hypothesen zu entscheiden. Gestatten Sie mir, Ihnen zwei Fakten zu nennen, die der große Gelehrte Erckert in seiner 1887 erschienenen Schrift Der Kaukasus und seine Völker anführt. Als Kopfindex nennt er einen Wert von 79,4 (mesozephal) für die Tataren in Aserbaidshan, von 83,5 (brachyzephal) für die Georgier, von 85,6 (hyperbrachyzephal) für die Armenier und von 86,7 (hyperbrachyzephal) für die Bergjuden.« – »Ha!«, rief Weintrop aus. »Wie die Mecklenburger!« – »Pst …«, sagte Köstring. »Lassen Sie

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