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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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wir kennen, sondern das einstige Großarmenien, das heißt fast ganz Transkaukasien und einen Großteil Anatoliens …« Und in dieser Weise fuhr Weintrop fort – jeder Beweis, den er vorlegte, schien dem vorangehenden zu widersprechen. »Wenn wir uns nun einer völkerkundlichen Betrachtung zuwenden, so sind zwischen den Bergjuden und ihren Nachbarn, die zum Islam oder gar, wie die Osseten, zum Christentum übergetreten sind, kaum Unterschiede feststellbar. Heidnischer Einfluss ist in starkem Maße erhalten: Die Bergjuden huldigen der Dämonologie, tragen Talismane, um sich vor bösen Geistern zu schützen, und so fort. Das ähnelt dem so genannten sufistischen Brauchtum der mohammedanischen Kaukasier, etwa dem Gräberkult oder den rituellen Tänzen, die ebenfalls heidnische Relikte sind. Der Lebensstandard der Bergjuden entspricht dem deranderen Kaukasier, in der Stadt wie in den Auls , die wir besucht haben: Keinesfalls lässt sich behaupten, die Bergjuden hätten sich den Judäo-Bolschewismus zunutze gemacht, um ihre Lage zu verbessern. Im Gegenteil, meist scheinen sie fast ärmer zu sein als die Kabardiner. Beim Sabbatmahl sitzen die Frauen und Kinder abseits von den Männern: Das steht im Gegensatz zur jüdischen Tradition, entspricht aber der kaukasischen. Umgekehrt sieht man bei Hochzeiten wie der, an der wir teilnehmen konnten – mit ihren Hunderten von kabardinischen und balkarischen Gästen –, die Männer und Frauen der Bergjuden miteinander tanzen, was im orthodoxen Judentum streng verboten ist.« – »Und, Ihre Schlussfolgerungen?«, fragte von Bittenfeld, Köstrings Adjutant. Weintrop kratzte sich das kurz geschorene weiße Haar. »Über die Herkunft lässt sich nur schwer etwas sagen: Die Belege sind widersprüchlich. Doch uns scheint offenkundig zu sein, dass sie vollständig assimiliert und integriert sind, vermischlingt , wenn Sie wollen. Die Spuren jüdischen Blutes, die ihnen verblieben sind, dürften zu vernachlässigen sein.« – »Und doch halten sie hartnäckig an ihrer jüdischen Religion fest, die sie im Laufe der Jahrhunderte in ihrer ursprünglichen Form bewahrt haben.« – »Oh, nicht in ihrer ursprünglichen Form, Herr Oberführer«, erwiderte Weintrop gutmütig. »Vielmehr sehr entstellt, wie ich finde. Sie haben ihr talmudisches Wissen fast vollständig eingebüßt, falls sie es überhaupt jemals besessen haben. Nimmt man ihre Dämonologie hinzu, sind sie praktisch Ketzer, wie die Karaiten. Im Übrigen verachten die Aschkenasim sie und nennen sie Byki , ›Bullen‹, eine abfällige Bezeichnung.« – »Apropos«, meinte Köstring liebenswürdig und wandte sich an Korsemann, »wie ist denn die Meinung der SS dazu?« – »Das ist zweifellos eine wichtige Frage«, sagte Korsemann zustimmend. »Ich möchte das Wort an Oberführer Bierkamp weitergeben.« Dieser ordnete bereits seine Papiere: »Leider musste unsereSpezialistin, Fräulein Dr. Weseloh, nach Deutschland zurück. Aber sie hat einen vollständigen Bericht verfasst, der Ihnen zugegangen ist, Herr General, und der unsere Auffassung nachdrücklich unterstreicht: Diese Bergjuden sind außerordentlich gefährliche Fremdkörper, die eine Bedrohung für die Sicherheit unserer Truppe darstellen, eine Bedrohung, auf die wir nachdrücklich und energisch reagieren müssen. Dieser Standpunkt, der im Unterschied zu dem der Forscher die lebenswichtige Frage der Sicherheit berücksichtigt, stützt sich auch auf die Analyse wissenschaftlicher Dokumente durch Fräulein Dr. Weseloh, deren Schlussfolgerungen von denen der anderen hier anwesenden Fachleute abweichen. Ich überlasse es Hauptsturmführer Dr. Aue, diese Punkte vorzutragen.« Mit einem Kopfnicken übernahm ich das Wort: »Danke, Oberführer. Ich glaube, um der Klarheit willen sollten wir die verschiedenen Beweiskategorien auseinanderhalten. Da gibt es zunächst einmal die historischen Dokumente, dann das lebende Dokument in Gestalt der Sprache; es folgen die Ergebnisse der biologischen und der Kulturanthropologie; und schließlich haben wir noch die völkerkundliche Feldforschung, wie sie Dr. Weintrop oder Dr. Weseloh vorgenommen haben. Wenn wir die historischen Dokumente zugrunde legen, scheint erwiesen, dass schon lange vor dem Religionswechsel der Chasaren Juden im Kaukasus lebten.« Ich zitierte Benjamin von Tudela und einige andere alte Quellen wie die Handschrift Derbend-Nameh . »Im 9. Jahrhundert hat Eldad ha-Dani den Kaukasus besucht und festgehalten, dass die Bergjuden

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