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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ich auf dem Flur zwei schmutzigen, rotznäsigen Jungen, die die Ukrainer nach dem Verhör zur Erschießung führten: Sie hatten in mehreren Gefechtsständen Offiziersstiefel geputzt und sich die verschiedensten Einzelheiten eingeprägt; nachts hatten sie sich durch einen Abwasserkanal geschlichen, um die Sowjets zu informieren. Bei einem von ihnen wurde ein russischer Orden gefunden: Er versicherte, ihn verliehen bekommen zu haben, aber vielleicht hatte er ihn einfach gestohlen oder einem Gefallenen abgenommen. Sie mussten zwölf oder dreizehn sein, aber man hätte sie nicht mal auf zehn geschätzt, und während Zumpe, der das Erschießungskommando befehligen sollte,mir die Angelegenheit erläuterte, starrten sie mich beide aus großen Augen an, als könne ich sie retten. Das machte mich wütend: Was wollt ihr von mir?, hätte ich sie am liebsten angeschrien. Ihr werdet sterben, na und? Auch ich werde hier vermutlich sterben, alle werden hier sterben. Das ist der Einheitstarif. Ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu beruhigen; später erzählte mir Zumpe, sie hätten geweint, aber auch gerufen: »Es lebe Stalin!« und » Urräh, Pobeda! «, bevor die Kugeln sie trafen. »Und das ist jetzt eine erbauliche Geschichte?«, fragte ich ihn. Etwas betreten ging er davon.
    Ich begann Gespräche mit einigen meiner so genannten Informanten zu führen, die Iwan oder ein anderer Ukrainer anschleppte oder die von allein kamen. Diese Männer und Frauen waren in einem jämmerlichen Zustand: Sie stanken und starrten vor Schmutz und Läusen; Läuse hatte ich inzwischen auch schon, aber der Gestank dieser Leute verursachte mir Brechreiz. Sie schienen mir eher Bettler als Agenten zu sein: Die Informationen, die sie mir lieferten, waren stets nutzlos oder unüberprüfbar; als Gegenleistung erhofften sie eine Zwiebel oder eine gefrorene Kartoffel, die ich zu diesem Zweck in einem Kasten aufbewahrte, einer echten Schwarzen Kasse in lokaler Währung. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit den widersprüchlichen Gerüchten anfangen sollte, die sie mir zutrugen; hätte ich sie an die Abwehr weitergegeben, hätte sie sich über uns lustig gemacht; schließlich legte ich eine Rubrik mit dem Titel Verschiedene unbestätigte Meldungen an und übermittelte Möritz alle zwei Tage eine solche Zusammenstellung.
    Die Informationen über die Nachschubprobleme waren für mich von besonderem Interesse, weil sie sich erheblich auf die Moral auswirkten. Alle wussten, ohne dass darüber gesprochen wurde, dass die sowjetischen Gefangenen in unserem Stalag, die seit einiger Zeit praktisch keine Nahrung mehr erhielten, in den Kannibalismus abgerutscht waren.»Da zeigt sich ihre wahre Natur«, hatte Thomas mich nur beschieden, als ich mit ihm darüber diskutieren wollte. Es galt als selbstverständlich, dass der deutsche Landser auch in äußerster Not Haltung bewahren würde. Daher löste der Bericht über einen Fall von Kannibalismus in einer Kompanie am westlichen Rand des Kessels höheren Ortes einen umso heftigeren Schock aus. Die Umstände ließen die Angelegenheit besonders grässlich erscheinen. Als der Hunger die Soldaten der Kompanie bewogen hatte, diesen Ausweg zu wählen, hatten sie, noch immer auf die Weltanschauung bedacht, folgenden Punkt diskutiert: Sollte man einen Russen oder einen Deutschen essen? Es ging um die weltanschauliche Frage, ob es legitim sei, einen Slawen, einen bolschewistischen Untermenschen, zu essen. Lief man nicht Gefahr, sich mit diesem Fleisch den deutschen Magen zu verderben? Doch einen toten Kameraden zu essen sei unehrenhaft; auch wenn man sie nicht mehr begraben könne, schulde man doch denen Respekt, die für die Heimat gefallen seien. So einigten sie sich darauf, einen ihrer Hiwis zu essen, angesichts der vorgebrachten Argumente ein recht vernünftiger Kompromiss. Sie töteten den Mann, und ein Obergefreiter, ein gelernter Metzger aus Mannheim, zerlegte ihn. Die überlebenden Hiwis gerieten in Panik: Drei von ihnen wurden erschossen, als sie zu desertieren suchten, einem anderen gelang es jedoch, den Regimentsstab zu erreichen, wo er den Vorfall einem Offizier meldete. Niemand hatte ihm geglaubt; nach einer Untersuchung musste man sich jedoch den Beweisen beugen, denn der Kompanie war es nicht gelungen, die Reste des Opfers verschwinden zu lassen, sein Brustkorb und ein Teil der für ungenießbar gehaltenen Innereien wurden gefunden. Die Soldaten hatten nach ihrer Verhaftung alles gestanden; das Fleisch habe nach

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