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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Schwein geschmeckt und allemal mit Pferdefleisch mithalten können. Ohne Aufsehen wurden der Metzger und vier Rädelsführer erschossen unddie Angelegenheit dann vertuscht; in den Stäben aber hatte sie für erhebliche Unruhe gesorgt. Möritz bat mich, einen Gesamtbericht über die Ernährungslage der Truppe seit Schließung des Kessels anzufertigen; er hatte die Zahlen des AOK 6, hielt diese jedoch in großen Teilen für hypothetisch. Ich hatte vor, Hohenegg zu treffen.
    Dieses Mal bereitete ich meinen Ausflug etwas besser vor. Ich war bereits mit Thomas unterwegs gewesen, um der Abteilung Ic der Division einen Besuch abzustatten; nach meiner kroatischen Eskapade hatte Möritz mir befohlen, mir in Zukunft vorher einen Marschbefehl zu besorgen, wenn ich allein rausgehen wollte. Ich telefonierte mit Pitomnik, der Dienststelle von Generalstabsarzt Dr. Renoldi, dem Chef des Sanitätswesens des AOK 6, wo ich erfuhr, dass Hohenegg im zentralen Feldlazerett in Gumrak stationiert sei; dort teilte man mir mit, er habe sich in den Kessel begeben, um mit seinen Untersuchungen zu beginnen; schließlich machte ich ihn in Rakotino ausfindig, einer Staniza im Süden des Kessels, im Abschnitt der 376. Infanteriedivision. Um eine Fahrt dorthin zu organisieren, musste ich mit verschiedenen Stäben telefonieren. Der Ausflug würde einen halben Tag dauern und ich die Nacht sicherlich in Rakotino selbst oder in Gumrak verbringen müssen; doch Möritz genehmigte die Expedition. Es blieben noch einige Tage bis zum Jahreswechsel, seit Weihnachten hatten wir um die fünfundzwanzig Grad minus, und ich beschloss, meinen Pelzmantel wieder hervorzuholen, trotz der Gefahr, dass sich die Läuse darin einnisteten. Aber ich war ohnehin schon voller Läuse, das allabendliche sorgfältige Absuchen der Kleidungsnähte änderte nichts daran: Bauch, Achselhöhlen, die Innenseite der Schenkel waren rot von Stichen, dort kratzte ich mich bis aufs Blut. Außerdem litt ich an Durchfällen, sicherlich infolge des schlechten Wassers und der unregelmäßigen Ernährung – je nach Wochentag eine Mischung aus Büchsenschinken oderfranzösischer Pastete und Wassersuppe mit Pferdefleisch. Auf der Befehlsstelle ging es noch, die Offizierslatrinen waren zwar verseucht, aber wenigstens zu benutzen, doch unterwegs konnte es rasch problematisch werden.
    Ich brach ohne Iwan auf: Im Kessel brauchte ich ihn nicht; außerdem waren die Fahrzeugplätze strikt begrenzt. Ein erstes Auto brachte mich nach Gumrak, ein weiteres nach Pitomnik; dort musste ich mehrere Stunden auf einen Anschluss nach Rakotino warten. Es schneite nicht, aber der Himmel war milchig grau, trüb. Und die Flugzeuge, die jetzt von Salsk aus starteten, trafen unregelmäßig ein. Auf der Landepiste herrschte ein noch schlimmeres Chaos als in der Woche zuvor; jedes Flugzeug war einem Ansturm ausgesetzt, Verwundete fielen zu Boden und wurden von den anderen niedergetrampelt, die Feldgendarmen mussten Feuerstöße in die Luft abgeben, um die Horde der Verzweifelten zurückzudrängen. Ich wechselte ein paar Worte mit dem Piloten einer Heinkel He 111, der sich von seiner Maschine entfernt hatte, um zu rauchen; er war bleich und betrachtete die Szene fassungslos, wobei er murmelte: »Das ist doch nicht möglich, das ist doch nicht möglich … Wissen Sie«, sagte er, bevor er zurückging, »jeden Abend, wenn ich lebend nach Salsk komme, weine ich wie ein Kind.« Bei diesem einfachen Satz wurde mir schwindelig; ich wendete mich von dem Piloten und der tobenden Meute ab und begann zu schluchzen: Die Tränen vereisten mir auf dem Gesicht, ich weinte um meine Kindheit, um die Zeit, als Schnee noch ein Vergnügen war, das kein Ende kannte, als eine Stadt noch ein wunderbarer Raum zum Leben und ein Wald noch kein Ort war, an dem man bequem Menschen töten konnte. Hinter mir heulten die Verwundeten wie Besessene, wie tollwütige Hunde, die mit ihren Schreien fast das Dröhnen der Motoren übertönten. Diese Heinkel zumindest hob ohne Probleme ab; was nicht für die nachfolgende Junkers galt.Da wieder Granaten einschlugen, hatte man beim Betanken offenbar geschlampt, vielleicht funktionierten die Motoren auch nicht richtig in der Kälte: Jedenfalls fiel, einige Sekunden nachdem die Räder sich vom Boden gelöst hatten, der linke Motor aus; die Maschine, die noch nicht genügend Geschwindigkeit gewonnen hatte, machte einen Schlenker zur Seite; der Pilot versuchte, sie wieder aufzurichten, doch das Flugzeug hatte schon

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