Die Wohlgesinnten
Anfang meines Berichts angeführten deutlich wird. Ich erzählte Hohenegg die Geschichte der salomonischen Kannibalen. Sein einziger Kommentar war: »Nach den von mir untersuchten Hiwis zu urteilen, dürften sie nicht satt geworden sein.« Das brachte uns auf meinen Auftrag. »Ich bin noch nicht mit allen Divisionen durch«, erläuterte er mir, »und es gibt Unterschiede, für die ich noch keine Erklärung gefunden habe. Aber ich habe schon ungefähr dreißig Autopsien vorgenommen, und die Ergebnisse sind eindeutig: Mehr als die Hälfte weist Symptome akuter Unterernährungauf. Im Allgemeinen fast kein Fettgewebe mehr unter der Haut und um die inneren Organe; gallertartige Flüssigkeit im Mesenterium; geschwollene Leber, blasse, blutleere Organe; das rote und gelbe Knochenmark durch eine glasige Substanz ersetzt; atrophierter Herzmuskel, aber mit einer Vergrößerung der Kammer und des rechten Herzohrs. Alltagssprachlich ausgedrückt: Da ihr Körper nichts mehr hat, um die lebenswichtigen Funktionen aufrechtzuerhalten, frisst er sich selber auf, um die erforderlichen Kalorien zu bekommen; wenn nichts mehr da ist, kommt alles zum Stillstand, wie ein Auto ohne Benzin. Das ist an sich nichts Neues: Hier ist allerdings seltsam, dass es trotz der dramatischen Kürzung der Rationen noch viel zu früh für so viele Fälle ist. Alle Offiziere versichern mir, dass die Verpflegung zentral vom AOK geregelt werde und dass alle Soldaten die offizielle Ration erhielten, die gegenwärtig knapp unter 1000 Kalorien pro Tag liege. Das ist zwar viel zu wenig, aber immerhin etwas; die Männer müssten geschwächt, anfälliger für Krankheiten und opportunistische Infektionen sein, sie sollten aber eigentlich noch nicht verhungern. Daher suchen meine Kollegen nach einer anderen Erklärung: Sie sprechen von Erschöpfung, Belastung, psychischem Schock . Doch all das ist vage und wenig überzeugend. Meine Autopsien lügen nicht.« – »Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?« – »Ich weiß nicht. Es muss einen ganzen Ursachenkomplex geben, der sich unter den gegebenen Umständen schwer entwirren lässt. Ich vermute, dass die Fähigkeit bestimmter Organismen, die Nährstoffe richtig aufzuspalten – sie zu verdauen, wenn Sie so wollen –, durch andere Faktoren wie nervöse Anspannung oder Schlafmangel beeinträchtigt wird. Natürlich gibt es auch ganz eindeutige Fälle: Männer mit so schweren Durchfällen, dass das wenige an Nahrung, was sie aufnehmen, nicht lange genug im Magen bleibt und gewissermaßen in seinem ursprünglichen Zustand wiederherauskommt; das gilt in besonderem Maße für die Soldaten, die fast nichts anderes als diese Wassersuppe essen. Einige der Lebensmittel, die wir an die Truppe ausgeben, sind sogar schädlich; zum Beispiel Büchsenfleisch wie das Ihre, das sehr fett ist, kann manchmal Männer umbringen, die wochenlang nichts als Brot und Suppe gegessen haben; ihr Organismus verkraftet den Schock nicht, das Herz arbeitet zu heftig und hört plötzlich auf zu schlagen. Dazu gehört auch die Butter, die noch hierhergelangt: Sie wird in gefrorenen Blöcken geliefert, und in der Steppe haben die Landser nichts zum Feuermachen, daher zerhacken sie sie mit der Axt in kleine Stücke, die sie lutschen. Dadurch bekommen sie schreckliche Durchfälle, denen sie rasch erliegen. Wenn Sie es genau wissen wollen, viele Leichen, die ich auf den Tisch bekomme, haben noch die Hose voller Scheiße, die zum Glück gefroren ist: Zum Schluss sind sie zu schwach, die Hosen herunterzulassen. Und das sind Leichen, die von der Front kommen, nicht aus den Lazaretten. Kurz, um auf meine Theorie zurückzukommen, so dürfte sie schwer zu beweisen sein, erscheint mir aber einleuchtend. Kälte und Erschöpfung wirken sich direkt auf den Stoffwechsel aus, sodass er nicht mehr richtig arbeitet.« – »Und die Angst?« – »Die natürlich auch. Das war während des Weltkriegs deutlich zu erkennen: Bei besonders heftigem Beschuss streikt das Herz; wir finden junge Männer, die gut genährt und gesund sind, ohne die geringste Verletzung tot auf. Hier würde ich allerdings sagen, dass es als erschwerender Faktor hinzukommt, aber nicht die eigentliche Ursache ist. Wie gesagt, ich muss meine Untersuchungen fortsetzen. Das ist für die 6. Armee sicherlich nicht von großem Nutzen, aber ich bilde mir ein, dass es der Wissenschaft nützen wird, und das hilft mir, morgens aufzustehen; das und der unvermeidliche Saljut unserer Freunde drüben. Im
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