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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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hinlegte. »Ich habe einen Bunker mit Holzwänden, Heizmöglichkeit und sauberer Bettwäsche. Der reinste Luxus.« Sauberes Bettzeug: Davon, sagte ich mir, kann man träumen. Ein heißes Bad und sauberes Bettzeug. War es möglich, dass ich starb, ohne jemals wieder ein Bad genommen zu haben? Ja, das war möglich, und von Hoheneggs Isba aus gesehen, erschien es mir sogar wahrscheinlich. Wieder überkam mich ein ungeheures Verlangen zu weinen. Das passierte mir jetzt häufig.

 
    Zurück in Stalingrad, schrieb ich unter Verwendung der Zahlen, die mir Hohenegg geliefert hatte, einen Bericht, der Möritz, so Thomas, erschlug: er habe ihn in einem Zuge gelesen und dann kommentarlos zurückgeschickt. Thomas wollte ihn direkt nach Berlin weiterleiten. »Darfst du das ohne Genehmigung von Möritz?«, fragte ich ihn erstaunt. Thomas zuckte die Achseln: »Ich bin ein Offizier der Geheimen Staatspolizei, nicht der Geheimen Feldpolizei. Ich tue,$was ich will.« Mir wurde klar, dass wir alle tatsächlich mehr oder minder selbstständig waren. Nur selten erhielt ich von Möritz klare Befehle, meist blieb ich auf mich allein gestellt. Ich fragte mich, warum er mich hatte kommen lassen. Thomas unterhielt direkte Kontakte mit Berlin, ich wusste nicht genau, über welchen Kanal, und schien sich immer über seinen nächsten Schritt sicher zu sein. In den ersten Monaten nach Besetzung der Stadt hatte die Sipo zusammen mit der Feldgendarmerie die Juden und Kommunisten liquidiert; dann hatten sie mit der Evakuierung der meisten Zivilisten begonnen und alle, die im arbeitsfähigen Alter waren, zum Sauckel-Einsatz nach Deutschland verfrachtet, insgesamt fast fünfundsechzigtausend. Doch auch Sipo und Feldgendarmerie fanden jetzt kaum etwas zu tun. Thomas dagegen wirkte sehr beschäftigt; Tag für Tag betrieb er mittels Zigaretten und Konservendosen Kontaktpflege mit seinen Abwehrleuten. Mangels Besseren beschloss ich, das geerbte Netz ziviler Informanten zu reorganisieren. Pauschal strich ich all denen, die mir nutzlos erschienen, die Zuwendungen und verkündete den anderen, dass ich mehr von ihnen erwartete. Auf Anregung Iwans stattete ich mit einem Dolmetscher den Kellern der zerstörten Gebäude im Zentrum einen Besuch ab: Dort lebten alte Frauen, die viel wussten, sich aber nicht mehr von der Stelle rührten. Die meisten hassten uns und erwarteten mit Ungeduld die Rückkehr der naschi , »der Unseren«; aber einige Kartoffeln und vor allem das Vergnügen, jemanden zu haben, mit dem sie sprechen konnten, lösten ihnen die Zunge. Militärisch hatten sie nichts beizusteuern, aber sie hatten Monate unmittelbar hinter den russischen Linien gelebt und ließen sich beredt über die Moral der Soldaten, ihren Mut, ihren Glauben an Russland und auch die enorme Hoffnung aus, die der Krieg im Volk geweckt hatte und über die die Männer offen diskutierten, sogar mit den Offizieren: Liberalisierung des Regimes, Auflösung derSowchose und Kolchose, Abschaffung der Arbeitsbücher, die die Freizügigkeit einschränkten. Mascha, eine dieser Alten, berichtete mir ergriffen von General Tschuikow, den sie den »Helden von Stalingrad« nannte: Seit dem Beginn der Kämpfe hatte er das rechte Ufer nicht verlassen; am Abend, als wir die Öltanks angezündet hatten, hatte er sich gerade noch auf eine Felsspitze gerettet und die Nacht, ohne mit der Wimper zu zucken, zwischen den Feuern verbracht; die Männer hörten nur noch auf ihn. Für mich war dieser Name neu. Von diesen Frauen erfuhr ich auch viel über unsere eigenen Landser: Viele von ihnen suchten mehrere Stunden Zuflucht bei ihnen, um eine Kleinigkeit zu essen, zu reden und zu schlafen. Dieser Frontabschnitt war ein unvorstellbares Chaos aus eingestürzten Gebäuden, ständig unter dem Feuer der russischen Artillerie, deren Abschüsse gelegentlich vom anderen Wolgaufer zu hören waren; von Iwan geführt, der dort jeden Winkel zu kennen schien, bewegte ich mich praktisch unterirdisch vorwärts, von einem Keller in den nächsten, ab und zu sogar durchs Abwassersystem. In anderen Abschnitten dagegen führte uns unser Weg durch obere Stockwerke, weil Iwan das aus unerfindlichen Gründen sicherer fand, wir durchquerten Wohnungen mit verbrannten, in Fetzen herunterhängenden Vorhängen, mit zerborstenen rauchgeschwärzten Decken und mit nacktem Mauerwerk hinter zerrissenen Tapeten und abgeplatztem Stuck, die vollgestellt waren mit vernickelten Bettgestellen, aufgeschlitzten Sofas, Anrichten und

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