Die Wohlgesinnten
Kinderspielzeug; Bretter waren über klaffende Löcher gelegt, Flure, durch die wir kriechen mussten, lagen ungeschützt offen, und überall Mauerwerk, das von Löchern durchsiebt war wie eine Spitzendecke. Die Artillerie schien Iwan kaltzulassen, aber er hatte eine abergläubische Angst vor Scharfschützen; bei mir war es umgekehrt, die Detonationen jagten mir Entsetzen ein, ich musste mich jedes Mal zusammenreißen, um michnicht zu ducken, während ich den Scharfschützen keine Beachtung schenkte; das geschah aus Unwissenheit, und Iwan musste mich häufig von irgendeiner Stelle zurückreißen, sicherlich weil sie zu exponiert war, aber für mich sah sie wie alle anderen aus. Auch er versicherte, dass die meisten dieser Scharfschützen Frauen seien, außerdem behauptete er, er habe mit eigenen Augen die Leiche der berühmtesten unter ihnen gesehen, der sowjetischen Meisterin von 1936; und doch hatte er nie von den Sauromaten vom Unterlauf der Wolga gehört, die laut Herodot aus der Verbindung zwischen Skythen und Amazonen hervorgegangen waren, die ihre Frauen in die Schlacht schickten, um sie gegen Männer kämpfen zu lassen, und riesige Kurgane errichteten wie den des Mamai . In diesen verwüsteten, trostlosen Stadtlandschaften traf ich auch Soldaten; einige antworteten mir feindselig, andere freundlich, wieder andere gleichgültig; Rattenkrieg nannten sie den Kampf um diese Ruinen, wo ein Flur, eine Decke, eine Wand als Frontlinie diente, wo sich beide Seiten in Staub und Pulverrauch blind mit Handgranaten bewarfen, wo die Lebenden in der Hitze der Brände erstickten, wo die Toten die Stufen, die Treppenabsätze und die Wohnungsschwellen blockierten, wo jeder Begriff von Zeit und Raum verloren ging und der Krieg fast zu einem abstrakten, dreidimensionalen Schachspiel wurde. Auf diese Weise waren unsere Truppen manchmal auf zwei oder drei Straßen an die Wolga herangerückt, aber nicht näher. Nun waren die Russen am Zuge: Tag für Tag, meist im Morgengrauen und am Abend, unternahmen sie wütende Angriffe gegen unsere Stellungen, vor allem im Abschnitt der Fabriken, aber auch im Zentrum; die streng rationierte Munition der Kompanien ging zur Neige, und nach dem Angriff brachen die Überlebenden völlig erschöpft zusammen; tagsüber gingen die Russen ungeschützt spazieren, in der sicheren Gewissheit, dass unsere Männer nicht schießen durften. In den Kellernlebten sie zusammengepfercht unter Teppichen von Ratten, die alle Furcht verloren hatten, die über die Lebenden wie die Toten hinwegliefen und nachts an den Ohren, Nasen oder Zehen der zusammengesunkenen Schläfer nagten. Eines Tages war ich gerade im zweiten Stock eines Gebäudes, als eine kleine Mörsergranate in der Straße krepierte; einige Augenblicke später hörte ich ein absolut wahnsinniges Lachen. Ich sah zum Fenster hinaus und erblickte so etwas wie einen menschlichen Torso, der mitten in den Bauschutt gestellt war: Es war ein deutscher Soldat, dem die Detonation beide Beine abgerissen hatte und der aus vollem Halse lachte. Ich sah ihn an, er hörte nicht auf zu lachen inmitten einer Blutlache, die sich immer weiter zwischen den Trümmern ausbreitete. Bei diesem Anblick sträubte sich alles in mir, er schnürte mir die Eingeweide zusammen; ich schickte Iwan hinaus und ließ meine Hose mitten im Salon runter. Wenn mich der Durchfall unterwegs überfiel, schiss ich, egal, wo ich war, in Fluren, Küchen, Schlafzimmern, sogar, wenn der Zufall dieser Ruinenlandschaft es wollte, über einer Kloschüssel hockend, auch wenn diese tatsächlich nicht immer an ein Rohr angeschlossen war. Diese großen zerstörten Wohngebäude, in denen letzten Sommer noch Tausende von Familien das alltägliche gewöhnliche Leben aller Familien gelebt hatten, ohne zu ahnen, dass bald Soldaten zu sechst in ihren Ehebetten schlafen, sich den Hintern mit ihren Vorhängen oder Laken abwischen, sich mit Spatenhieben in ihren Küchen massakrieren und ihre Badewannen mit den Leichen der getöteten Soldaten vollstopfen würden, diese Wohngebäude erfüllten mich mit einer unbegründeten, bitteren Angst; und durch diese Angst hindurch stiegen immer häufiger Bilder aus der Vergangenheit auf, wie Ertrunkene nach einem Schiffbruch. Oft waren es erbärmliche Erinnerungen. Zwei Monate nach unserer Ankunft bei Moreau, kurz vor meinem elften Geburtstag, hatte meine Muttermich nach dem Ende der Ferien unter dem Vorwand, es gebe kein gutes Gymnasium in Antibes, auf ein Internat in Nizza
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