Die Wohlgesinnten
Grunde ist dieser Kessel ein riesiges Labor. Für einen Forscher ein richtiges Paradies. Mir stehen so viele Leichenzur Verfügung, wie ich nur wünschen kann, vollkommen konserviert, wenn es auch gelegentlich etwas schwierig ist, sie aufzutauen. Ich muss meine bedauernswerten Assistenten veranlassen, die Nacht mit ihnen am Ofen zu verbringen, um sie regelmäßig zu wenden. Neulich in Baburkin ist einer von ihnen eingeschlafen; am nächsten Morgen fand ich mein Forschungsobjekt von der einen Seite gefroren und von der anderen geröstet vor. Aber nun kommen Sie, es wird Zeit.« – »Zeit? Zeit wofür?« – »Warten Sie’s ab.« Hohenegg ergriff Aktentasche und Schreibmaschine und zog seinen Mantel an; bevor er hinausging, blies er die Kerze aus. Draußen war es Nacht geworden. Ich folgte ihm zu einer Balka hinter dem Dorf, wo er sich, die Füße voran, in einen unter dem Schnee kaum zu erkennenden Bunker gleiten ließ. Drei Offiziere saßen auf kleinen Schemeln um eine Kerze. »Guten Abend, meine Herren«, sagte Hohenegg. »Ich möchte Sie mit Hauptsturmführer Dr. Aue bekannt machen, der uns liebenswürdigerweise einen Besuch abstattet.« Ich schüttelte den Offizieren die Hand und setzte mich, da es keinen Schemel mehr gab, auf die gefrorene Erde, auf meinen Mantel. Trotz des Pelzes war mir kalt. »Der sowjetische Kommandeur drüben ist ein Mann von bemerkenswerter Pünktlichkeit«, erklärte mir Hohenegg. »Seit Mitte des Monats beharkt er diesen Abschnitt dreimal pro Tag, Punkt fünf Uhr dreißig, elf Uhr und sechzehn Uhr dreißig. In der Zwischenzeit nichts, abgesehen von ein paar Abschüssen aus Granatwerfern. Für die Arbeit ist das sehr praktisch.« Tatsächlich hörte ich drei Minuten später das durchdringende Heulen, gefolgt von einer Reihe gewaltiger Detonationen in der Nähe, einer Salve aus »Stalinorgeln«. Der ganze Bunker erzitterte, der Eingang versank zur Hälfte unter Schnee, und von der Decke fielen Erdklumpen herab. Das trübe Licht der Kerze flackerte und warf monströse Schatten auf die erschöpften, unrasierten Gesichter der Offiziere. Weitere Salven folgten,unterbrochen von den trockeneren Detonationen der Panzer- und Artilleriegeschosse. Der Lärm war zu einem tollwütigen, wahnsinnigen Geschöpf geworden, das ein Eigenleben entwickelte, die Luft in Beschlag nahm und sich über den teilweise blockierten Bunkereingang legte. Entsetzen packte mich bei dem Gedanken, lebendig begraben zu werden, es fehlte nicht viel, und ich hätte zu fliehen versucht, aber ich beherrschte mich. Nach zehn Minuten hörte das Störfeuer abrupt auf. Doch sein Lärm, seine Präsenz und sein Druck brauchten länger, um abzuklingen und sich zu verflüchtigen. Der scharfe Korditgeruch biss in Nase und Augen. Ein Offizier räumte den Bunkereingang mit der Hand, und wir krochen hinaus. Das Dorf über der Balka schien zerstört zu sein, wie von einem Sturm weggefegt; Isbas brannten, aber ich erkannte rasch, dass nur einige Häuser getroffen waren: Das Gros der Granaten war auf die Stellungen niedergegangen. »Das einzige Problem liegt darin«, meinte Hohenegg, während er mir die Erde und den Schnee vom Mantel klopfte, »dass sie nie genau auf die gleiche Stelle zielen. Das wäre noch praktischer. Gehen wir nachschauen, ob unsere bescheidene Zuflucht überlebt hat.« Die Hütte stand noch; sogar der Ofen verbreitete noch etwas Wärme. »Wollen Sie nicht zu einem Tee mitkommen?«, schlug einer der Offiziere vor, der uns begleitet hatte. Wir folgten ihm zu einer anderen Isba , die durch eine Trennwand in zwei Hälften geteilt wurde; der erste Raum, in dem die anderen beiden bereits saßen, war ebenfalls mit einem Ofen ausgestattet. »Hier in dem Dorf geht es«, meinte der Offizier. »Nach jedem Bombardement finden wir Holz. Doch die Männer an der Front haben nichts. Bei der geringsten Verwundung sterben sie am Schock und an Erfrierungen, die durch den Blutverlust verursacht werden. Nur selten bleibt genug Zeit, um sie in ein Lazarett zu bringen.« Ein anderer brühte den »Tee« auf, Schlüter-Ersatz. Alle drei waren imLeutnants- oder Oberleutnantsrang und noch sehr jung; sie bewegten sich und sprachen langsam, fast apathisch. Der Offizier, der den Tee zubereitete, trug das Eiserne Kreuz. Ich bot ihnen Zigaretten an: Das rief dieselbe Wirkung hervor wie bei dem kroatischen Offizier. Einer von ihnen holte ein speckiges Kartenspiel hervor: »Spielen Sie?« Ich schüttelte den Kopf, aber Hohenegg bejahte, und er gab die
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