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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Karten zu einer Skatpartie. »Karten, Zigaretten, Tee …«, lachte der Dritte, der noch nichts gesagt hatte. »Fast wie in der Heimat.« – »Anfangs haben wir noch Schach gespielt«, erzählte der Erste. »Aber dazu fehlt uns jetzt die Kraft.« Der mit dem Eisernen Kreuz servierte den Tee in verbeulten Bechern. »Leider haben wir keine Milch. Zucker auch nicht.« Wir tranken, und sie begannen zu spielen. Ein Unteroffizier trat ein und begann eine leise Unterhaltung mit dem Träger des Eisernen Kreuzes. »Im Dorf«, verkündete dieser bitter, »vier Tote, dreizehn Verwundete. Die 2. und die 3. Kompanie hat’s auch erwischt.« Mit einer zugleich wütenden und hilflosen Miene wandte er sich an mich: »Sie sind doch beim Nachrichtendienst, Herr Hauptsturmführer, können Sie mir eines erklären? Woher haben die all diese Waffen, diese Geschütze und Granaten? Seit anderthalb Jahren jagen wir sie vor uns her. Wir haben sie vom Bug zur Wolga getrieben, wir haben ihre Städte zerstört, ihre Fabriken dem Erdboden gleichgemacht … Also woher nehmen sie all diese Scheißpanzer und Geschütze?« Er war den Tränen nahe. »Mit Feindaufklärung dieser Art bin ich nicht befasst«, sagte ich ruhig. »Um die militärische Stärke des Feindes kümmert sich die Abwehr und die Abteilung Fremde Heere Ost . Nach meiner Meinung haben wir ihn anfangs unterschätzt. Und dann ist es ihnen gelungen, viele Fabriken zu verlegen. Ihre Produktionskapazität im Ural scheint beträchtlich zu sein.« Der Offizier schien das Gespräch fortsetzen zu wollen, war dazu aber sichtlich zu erschöpft. Schweigend widmete er sichwieder dem Kartenspiel. Etwas später fragte ich sie, was es mit der defätistischen Propaganda der Russen auf sich habe. Der Offizier, der uns eingeladen hatte, stand auf, verschwand hinter der Trennwand und brachte mir zwei Flugblätter. »Das hier schicken sie uns.« Auf dem einen war ein einfaches Gedicht von einem gewissen Erich Weinert gedruckt, auf Deutsch und mit dem Titel Denk an dein Kind! ; das andere endete mit einem Zitat: Die Rote Armee nimmt deutsche Soldaten und Offiziere, wenn sie sich ergeben, gefangen und schont ihr Leben (Befehl des Volkskommissars für Verteidigung J. Stalin Nr. 55). Eine gute Arbeit; Sprache und Typographie waren ausgezeichnet. »Und das klappt?«, fragte ich. Die Offiziere blickten sich an. »Leider«, sagte der Dritte schließlich. »Unmöglich, die Männer am Lesen zu hindern«, sagte der Träger des Eisernen Kreuzes. »Vor Kurzem«, berichtete der Dritte, »hat sich bei einem Angriff ein ganzer Abschnitt ergeben, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Glücklicherweise konnte ein anderer Abschnitt eingreifen und den Einbruch abriegeln. Schließlich haben wir die Roten zurückgedrängt, die ihre Gefangenen nicht mitgenommen haben. Mehrere von ihnen sind während des Gefechts getötet worden, die anderen wurden erschossen.« Der Leutnant mit dem Eisernen Kreuz warf ihm einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. »Kann ich die behalten?«, fragte ich und deutete auf die Flugblätter. »Wenn Sie möchten. Wir heben sie zu einem gewissen Zweck auf.« Ich faltete sie zusammen und steckte sie in meine Rocktasche. Hohenegg beendete die Runde und stand auf: »Gehen wir?« Wir dankten den drei Offizieren und kehrten zu Hoheneggs Isba zurück, wo ich eine kleine Mahlzeit mit meiner Konservendose und gerösteten Zwiebelscheiben zubereitete. »Ich bin untröstlich, Herr Aue, aber ich habe meinen Kognak in Gumrak zurückgelassen.« – »Ach, das holen wir ein andermal nach.« Wir sprachen über Offiziere; Hohenegg erzählte mir von den seltsamenObsessionen, von denen einige heimgesucht wurden, etwa dieser Oberstleutnant von der 44. Infanteriedivision, der eine ganze Isba , die einem Dutzend seiner Männer als Unterkunft diente, abreißen ließ, um das Wasser für ein Bad erhitzen zu lassen, und der sich dann, nachdem er lange im warmen Wasser gelegen und sich rasiert hatte, seine Uniform wieder angezogen und sich eine Kugel in den Mund gejagt hatte. »Nun, Herr Oberstarzt«, sagte ich, »Sie wissen sicherlich, dass belagern auf Latein obsidere heißt. Stalingrad ist eine obsedierte, eine besessene Stadt.« – »Ja. Gehen wir schlafen. Das Wecken ist hier ein wenig brutal.« Hohenegg verfügte über einen Stroh- und einen Schlafsack; für mich hatte er zwei Decken, außerdem wickelte ich mich in meinen Pelzmantel. »Sie sollten meine Unterkunft in Gumrak sehen«, sagte er, während er sich

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