Die Wohlgesinnten
geschickt. Das war gar kein so schreckliches Institut, die Lehrer waren ganz gewöhnliche Leute (wie habe ich mich später bei den Patres nach diesem Ort zurückgesehnt!); donnerstagnachmittags und am Wochenende durfte ich nach Hause; trotzdem hasste ich es. Ich war entschlossen, nicht noch einmal, wie in Kiel, das bevorzugte Ziel des Neides und der Bosheit der anderen Kinder zu werden; der Umstand, dass ich anfangs noch einen leichten deutschen Akzent hatte, beunruhigte mich zusätzlich; unsere Mutter hatte zu Hause schon immer französisch mit uns gesprochen, doch vor unserer Ankunft in Antibes hatten wir keine andere Praxis gehabt. Außerdem war ich schmächtig und klein für mein Alter. Um das zu kompensieren, kultivierte ich, ohne mir dessen weiter bewusst zu sein, eine boshafte und sarkastische Haltung gegenüber den Lehrern, die sicherlich gekünstelt war. Ich wurde zum Klassenclown; ich störte den Unterricht mit trockenen Kommentaren oder Fragen, die meine Kameraden vor boshafter Freude wiehern ließen; ich inszenierte ausgeklügelte und manchmal grausame Farcen. Besonders einen Lehrer hatte ich mir zum Opfer auserkoren, einen braven, etwas weibischen Mann, der Englisch unterrichtete, eine Fliege trug und Gerüchten zufolge Praktiken bevorzugte, die ich damals wie alle anderen, ohne allerdings die geringste Vorstellung von ihnen zu haben, für schändlich hielt. Aus diesen Gründen und seiner Schwäche wegen machte ich ihn zu meinem Prügelknaben und demütigte ihn regelmäßig vor der Klasse, bis zu dem Tag, an dem er mich, von einer unbändigen und ohnmächtigen Wut ergriffen, ohrfeigte. Noch nach so vielen Jahren könnte ich bei der Erinnerung daran vor Scham vergehen, weil ich inzwischen längst begriffen habe, dass ich diesem armen Menschen ebenso übel mitgespielt habe wie die stumpfen Rohlinge einst mir, schamlos,nur aus dem rohen Vergnügen, eine illusorische Überlegenheit zu beweisen. Das ist vielleicht der ungeheure Vorteil derjenigen, die wir stark nennen, gegenüber den Schwachen: Die einen wie die anderen werden von der Angst, der Furcht, dem Zweifel gebeutelt, aber diese wissen es und leiden darunter, während jene es nicht erkennen und sich, um die Mauer, die sie vor dem bodenlosen Abgrund schützt, noch besser abzustützen, gegen Letztere wenden, deren allzu sichtbare Zerbrechlichkeit ihre zerbrechliche Sicherheit bedroht. So bedrohen die Schwachen die Starken und fordern die blinde Gewalt und den Mord heraus, die sie erbarmungslos treffen. Und erst wenn die blinde und unwiderstehliche Gewalt die Stärksten ereilt, bekommt deren Gewissheit Risse: Erst dann erkennen sie, was sie erwartet, und sehen, dass sie erledigt sind. Das geschah mit all diesen Männern der 6. Armee, mit diesen Männern, die so stolz, so hochmütig waren, als sie die russischen Divisionen zermalmten, die Zivilisten beraubten, die Verdächtigen beseitigten, wie man Fliegen zerdrückt: Jetzt waren es nicht nur die sowjetischen Geschütze und Scharfschützen, die Kälte, die Krankheiten und der Hunger, sondern auch der Anstieg dieser inneren Gezeitenflut, die sie umbrachte. Auch in mir stieg die Flut, scharf und stinkend, mit süßlichem Geruch wie die Scheiße, die aus meinen Gedärmen strömte. Eine merkwürdige Unterhaltung, die mir Thomas verschaffte, führte es mir in aller Deutlichkeit vor Augen. »Ich würde mich freuen, wenn du dich mit jemandem unterhältst«, meinte er, indem er den Kopf in das winzige Kabuff steckte, das mir als Büro diente. Ich bin mir sicher, dass das am letzten Tag des Jahres 1942 stattfand. »Mit wem denn?« – »Einem Politruk , den wir gestern bei den Fabriken erwischt haben. Wir haben ihn schon ausgequetscht, soweit wir konnten, die Abwehr auch, aber ich habe mir gesagt, es wäre interessant, wenn du dich mit ihm unterhalten würdest, über weltanschauliche Dinge, umzu sehen, was denen in diesen Tagen so durch den Kopf geht. Du bist ein Feingeist, du wirst das besser hinkriegen als ich. Er spricht sehr gut Deutsch.« – »Wenn du es für nützlich hältst.« – »Verplemper keine Zeit mit militärischen Fragen, darum haben wir uns schon gekümmert.« – »Hat er geredet?« Thomas zuckte die Achseln und lächelte ein wenig: »Eigentlich nicht. Er ist nicht mehr ganz jung, aber ein zäher Bursche. Wir nehmen ihn uns vielleicht später noch mal vor.« – »Ah, verstehe, du willst, dass ich ihn weichklopfe.« – »Genau. Lies ihm die Leviten, rede mit ihm über die Zukunft seiner
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