Die Wohlgesinnten
Kinder.«
Einer der Ukrainer führte den Mann in Handschellen herein. Er trug die kurze olivgrüne Jacke des Panzergrenadiers, speckig, der rechte Ärmel an der Naht aufgerissen; auf der einen Seite war sein Gesicht vollkommen abgeschürft, als wäre ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen worden; auf der anderen Seite verschloss ihm eine bläuliche Schwellung fast das Auge; aber er musste bei seiner Gefangennahme gerade frisch rasiert gewesen sein. Brutal schleuderte der Ukrainer ihn auf einen kleinen Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, befahl ich. »Und warten Sie auf dem Flur.« Der Ukrainer zuckte die Achseln, nahm ihm die Handschellen ab und ging hinaus. Der Kommissar massierte sich die Handgelenke. »Sympathisch, unsere Volksverräter, nicht wahr?«, sagte er heiter. Trotz des Akzents war sein Deutsch gut verständlich. »Ihr könnt sie behalten, wenn ihr abzieht.« – »Wir werden nicht abziehen«, erwiderte ich schroff. »Na, umso besser. Das erspart uns, hinter ihnen herzulaufen, um sie zu erschießen.« – »Ich bin Hauptsturmführer Dr. Aue«, sagte ich. »Und Sie?« Er machte auf seinem Stuhl eine leichte Verbeugung: »Prawdin, Ilja Semjonowitsch, zu Ihren Diensten.« Ich holte eines meiner letzten Zigarettenpäckchen hervor: »Rauchen Sie?« Er lächelte, ich sah, dass ihm zwei Zähne fehlten: »Warumbieten einem Polypen bloß immer Zigaretten an? Bei jeder Festnahme wurden mir Zigaretten angeboten. Trotzdem, ich schlage sie nicht aus.« Ich reichte ihm eine, und er beugte sich vor, um sich Feuer geben zu lassen. »Und Ihr Dienstgrad?«, fragte ich. Mit einem Seufzer des Behagens stieß er eine Rauchwolke aus: »Eure Soldaten verhungern, aber ich stelle fest, dass die Offiziere noch gute Zigaretten haben. Ich bin Regimentskommissar. Vor Kurzem wurden uns militärische Dienstgrade verliehen, ich habe den eines Oberstleutnants bekommen.« – »Aber Sie sind Parteimitglied, kein Offizier der Roten Armee.« – »Das stimmt. Und Sie? Gehören Sie auch zur Gestapo?« – »Zum SD. Das ist nicht ganz das Gleiche.« – »Der Unterschied ist mir bekannt. Ich habe schon genügend von den Euren verhört.« – »Und wie kommt es, dass sich ein Kommunist wie Sie gefangen nehmen lässt?« Sein Gesicht verfinsterte sich: »Bei einem Angriff ist eine Granate neben mir krepiert, und ich habe Bauschutt an den Kopf bekommen.« Er wies auf die Abschürfungen in seinem Gesicht. »Ich war bewusstlos. Vermutlich haben mich meine Genossen für tot gehalten. Als ich wieder zu mir kam, war ich in den Händen der Euren. Da war nichts zu machen«, schloss er betrübt. »Ein hochrangiger Politruk , der in vorderster Linie kämpft, ist eher selten, oder?« – »Der Kommandeur war gefallen, und ich musste die Männer zusammenhalten. Doch generell bin ich mit Ihnen einer Meinung: Die Männer sehen nicht genügend Parteiverantwortliche im Gefecht. Einige missbrauchen ihre Privilegien. Aber diese Missstände werden wir abstellen.« Vorsichtig, mit den Fingerspitzen, betastete er das bläulich angelaufene malträtierte Gewebe um sein geschwollenes Auge. »Stammt das auch von der Detonation?«, fragte ich. Mit einem zahnlosen Lächeln antwortete er: »Nein, das waren Ihre Kameraden. Sie sollten diese Methode eigentlich kennen.« – »Euer NKWD verwendet die gleiche.« – »Vollkommen richtig. Ich beklage mich jaauch nicht.« Nach einer Pause fuhr ich fort: »Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?« – »Zweiundvierzig. Ich bin mit dem Jahrhundert geboren worden, wie Ihr Himmler.« – »Dann haben Sie ja die Revolution erlebt?« Er lachte: »Aber sicher! Mit fünfzehn Jahren bin ich militanter Bolschewik gewesen. Ich war Mitglied eines Arbeitersowjets in Petrograd. Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine Zeit war! Ein Sturmwind der Freiheit.« – »Das hat sich inzwischen gründlich geändert.« Er wurde nachdenklich: »Ja, das stimmt. Zweifellos war das russische Volk noch nicht reif für eine so ungeheure und unmittelbare Freiheit. Doch das wird kommen, Schritt für Schritt. Zunächst muss es erzogen werden.« – »Und Ihr Deutsch, wo haben Sie das gelernt?« Wieder lächelte er: »Ganz allein, mit sechzehn Jahren, von Kriegsgefangenen. Später hat mich Lenin persönlich zu den deutschen Kommunisten geschickt. Stellen Sie sich vor, ich habe Liebknecht und die Luxemburg kennengelernt! Ganz außergewöhnliche Menschen. Und nach dem Bürgerkrieg bin ich einige Male nach
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