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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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sonnenheller Glanz, ein willig begrüßter Abgrund. Meine Krämpfe, mein Durchfall, mein kaltes Fieber, auch meine Angst, all das war verblasst, aufgelöst in dieser überwältigenden Rückkehr. Ohne mir auch nur die Mühe zu machen, die Hose hochzuziehen, legte ich mich in den Staub und den Schutt, und die Vergangenheit entfaltete sich wie eine Blüte im Frühjahr. Am Dachboden mochten wir, dass es dort im Unterschied zum Keller immer Licht gibt. Selbst wenn das Dach nicht von Granateinschlägen durchsiebt ist, sickert das Licht entweder durch die Dachluken oder durch Ritzen zwischen den Dachpfannen ein, oder es dringt durch die Falltür herauf, die in das Stockwerk darunter führt, jedenfalls ist es nie ganz dunkel dort. Und in diesem verschwommenen, ungewissen, zersplitterten Licht spielten wir und lernten Dinge, die wir lernen mussten. Wer weiß, wie es dazu kam? Vielleicht hatten wir in Moreaus Bücherschrank, hinter anderen Büchern versteckt, einige verbotene gefunden, vielleicht war es auf ganz natürliche Weise geschehen, im Zuge der Spiele und Entdeckungen. In diesem Sommer blieben wir in Antibes, und samstags und sonntags fuhren wir in ein Haus, das Moreau bei Saint-Jean-Cap-Ferrat am Meer gemietet hatte. Dort trugen wir unsere Spiele hinaus in die Felder, die Schwarzkiefernwälder und den nahen Maquis, der vom Zirpen der Grillen und dem Summen der Bienen im Lavendel zitterte, dessen Geruch die Düfte von Rosmarin, Thymian, Harz und, gegen Ende des Sommers, der Feigen überlagerte, die wir bis zum Überdruss verschlangen, und dann, in weitererFerne, auf das Meer und die schroffen Klippen, die diese zerklüftete Küste bildeten, bis hin zu einer kleinen, zum Meer hin abfallenden Insel, die wir schwimmend oder per Boot erreichten. Dort tauchten wir, nackt wie Wilde, mit einem Eisenlöffel, um die dicken schwarzen Seeigel abzulösen, die unter Wasser an den Felswänden hafteten; wenn wir etliche zusammenhatten, öffneten wir sie mit einem Taschenmesser und verschlangen die kleinen, hell orangefarbenen Eier, die an der Schale klebten, warfen die Reste ins Meer und zogen geduldig die abgebrochenen Stacheln aus unseren Fingern, indem wir die Haut mit der Messerspitze öffneten, anschließend urinierten wir auf die Wunden. Wenn der Mistral wehte, herrschte ein riesiger Wellengang, der sich an den Klippen brach; die Rückkehr ans Ufer wurde dann zu einem gefährlichen Spiel, das all unser kindliches Geschick und Ungestüm erforderte: Als ich mich einmal aus dem Wasser zog, nachdem ich das Zurückfließen einer Welle abgewartet hatte, bevor ich nach dem Felsen griff, schleuderte mich eine unerwartete Woge auf ihn, meine Haut wurde von den Unebenheiten aufgeschürft, das Blut floss in vielen kleinen, vom Meerwasser verdünnten Rinnsalen; meine Schwester stürzte sich auf mich, streckte mich im Gras aus und begann die Schrammen nacheinander abzuküssen, leckte dabei das Blut und Salz wie eine kleine gierige Katze auf. In unserem hemmungslosen Rausch hatten wir einen Code erfunden, mit dem wir uns in Gegenwart unserer Mutter und Moreaus offen ganz bestimmte Gesten und Handlungen vorschlagen konnten. Es war das Alter reiner Unschuld, glücklich und paradiesisch. Die Freiheit hatte von uns, unseren kleinen, schmalen gebräunten Leibern Besitz ergriffen, wir schwammen wie die Seehunde, durchstreiften den Wald wie die Füchse, rollten und krümmten uns gemeinsam im Staub, nackte ununterscheidbare Körper, weder Mädchen noch Junge, nur zwei ineinander verknotete Schlangen.
    In der Nacht stieg das Fieber, ich zitterte in meinem Bett über Thomas, unter meiner Bettdecke zusammengerollt, von Läusen zerbissen und überwältigt von diesen weit zurückliegenden Bildern. Als die Schule am Ende des Sommers wieder begann, veränderte sich fast nichts. Getrennt voneinander, träumte jeder vom anderen, und wir warteten auf den Augenblick, an dem wir wieder zusammen wären. Wir hatten unser öffentliches Leben, das wir wie alle Kinder vor aller Augen lebten, und unser privates Leben, das uns allein gehörte, einen Raum, größer als die Welt und nur durch die Möglichkeiten begrenzt, die unsere Vorstellungskräfte zuließen. Im Laufe der Zeit wechselten die Kulissen, aber unsere Liebe bewahrte den Rhythmus einer Pavane, mal elegant, mal wild. In den Winterferien fuhr Moreau mit uns in die Berge; das machte man damals viel seltener als heute. Er mietete ein Chalet, das einem russischen Adligen gehört hatte: Dieser Moskauer hatte

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