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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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pisste auf den Teppich. Es sah mich mitglänzenden Augen an, wischte sich mit der Hand zwischen den Beinen ab, tauchte, ehe ich reagieren konnte, zwischen meinen Beinen hindurch und verschwand wieder lachend im Treppenhaus. Ich setzte mich aufs Sofa und betrachtete den feuchten Fleck auf dem geblümten Teppich; ich war noch immer von der Detonation der Granate betäubt, die Klaviermusik klirrte schmerzhaft in meinem entzündeten Ohr. Vorsichtig berührte ich es mit dem Finger und fand ihn mit gelblichem Eiter bedeckt, den ich zerstreut am Sofabezug abwischte. Dann schnäuzte ich in die Vorhänge und ging wieder hinaus; das Mädchen konnte mir gestohlen bleiben, irgendjemand würde ihm schon die Abreibung verpassen, die es verdiente. Im Keller des Uniwermag suchte ich einen Arzt auf: Er bestätigte, das ich eine Infektion hatte, säuberte sie, so gut es ging, und legte einen Verband über das Ohr, konnte aber nicht mehr für mich tun, weil er nichts mehr hatte. Ich hätte nicht sagen können, was für ein Tag war, ich hätte noch nicht einmal sagen können, ob die große russische Offensive im Westen des Kessels schon begonnen hatte; ich hatte jeden Zeitbegriff und alle technischen Einzelheiten unseres kollektiven Todeskampfes vergessen. Wurde ich angesprochen, erreichten mich die Worte wie aus weiter Ferne, wie von einer Stimme unter Wasser, und ich verstand nicht, was sie mir mitteilen wollten. Thomas musste wohl bemerken, dass ich rasch den Halt unter den Füßen verlor, denn er bemühte sich, mich wieder auf festeren Boden zu führen, damit sich mein verwirrter Zustand nicht ganz so deutlich bemerkbar machte. Aber auch ihm fiel es schwer, das Gefühl für die Kontinuität und die Wichtigkeit der Dinge zu bewahren. Um mich abzulenken, führte er mich aus: Einige der Abwehrleute, mit denen er verkehrte, hatten noch eine Flasche armenischen Kognak oder Schnaps aufbewahrt, und während er mit ihnen sprach, schlürfte ich ein Glas und überließ mich dem Stimmengewirr in meinem Innern. Beider Rückkehr von einem solchen Ausflug entdeckte ich an einer Straßenecke einen Metro-Eingang: Ich wusste nicht, dass Stalingrad überhaupt eine Metro hatte. Warum hatte ich nie einen Plan gesehen? Ich ergriff Thomas am Arm und zeigte ihm die Stufen, die in der Dunkelheit verschwanden: »Komm, Thomas, lass uns diese Metro genauer anschauen.« Sehr freundlich, aber entschieden antwortete er: »Nein, Max, nicht jetzt. Komm.« Ich beharrte: »Bitte, ich möchte sie sehen.« Meine Stimme wurde klagend, dumpfe Angst erfüllte mich, dieser Eingang zog mich unwiderstehlich an, doch Thomas weigerte sich noch immer. Ich war kurz davor zu weinen wie ein Kind, dem ein Spielzeug vorenthalten wird. In dem Augenblick detonierte eine Granate ganz in unserer Nähe, und der Luftdruck riss mich um. Als der Rauch sich verzog, setzte ich mich auf und schüttelte den Kopf; ich sah, dass Thomas im Schnee liegen blieb, sein langer Mantel war mit Blut und Erde bespritzt; dampfend traten seine Gedärme wie klebrige, schlüpfrige Schlangen aus seinem Bauch. Während ich ihn fassungslos ansah, richtete er sich mit ruckartigen, ungeschickten Bewegungen auf, wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt, fasste mit der behandschuhten Hand in seinen Bauch und zog scharfkantige Granatsplitter daraus hervor, die er in den Schnee warf. Diese Splitter waren noch fast weißglühend, sodass er sich trotz der Handschuhe die Finger verbrannte, an denen er nach jedem Stück bekümmert sog; wenn die Metallteile den Schnee berührten, verschwanden sie knisternd und ließen eine kleine Dampfwolke zurück. Die letzten Splitter waren offenbar tief eingedrungen, denn Thomas musste seine Faust ganz versenken, um sie herauszuziehen. Während er begann, seine Gedärme wieder einzusammeln, indem er sie vorsichtig heranzog und um eine Hand wickelte, sagte er mit einem schiefen Lächeln: »Da sind noch einige Stücke, glaube ich. Aber sie sind zu klein.« Er schob die Darmschlingen in die Leibeshöhle und zog dieFleischfalten seines Bauchs darüber. »Leihst du mir deinen Schal?«, fragte er mich; immer noch ganz Dandy, trug er nur einen Rollkragenpullover. Ich war aschfahl geworden und reichte ihm wortlos meinen Schal. Er steckte ihn unter seine Uniformfetzen, wickelte ihn sorgsam um den Bauch und verknotete ihn vorn fest. Dann, sein Werk mit einer Hand umklammernd, stützte er sich auf meine Schulter und zog sich schwankend hoch. »Scheiße«, murmelte er, »tut das weh.« Er stellte

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