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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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der Arzt einen Blick zu, und ich verstand: Der Mann würde es nicht mehr lange machen, wir konnten nichts anderes mehr für ihn tun, als den Anschein zu erwecken, wir hülfen ihm, um ihm ein bisschen Angst zu nehmen und ihm die letzten Minuten seines schwindenden Lebens zu erleichtern. All das ist real, glaubt mir. Ein andermal hatte Iwan mich unweit der Front zu einem großen Gebäude am Respublikanski-Prospekt geführt, wo sich ein russischer Deserteur versteckt halten sollte. Ich konnte ihn nicht entdecken, ichdurchsuchte die Zimmer und bedauerte, da hingegangen zu sein, als helles Kinderlachen im Flur ertönte. Ich trat aus der Wohnung und sah nichts; einige Augenblicke später aber tauchte auf der Treppe eine wilde Horde kleiner schamloser Mädchen auf, die sich an mir rieben und zwischen meinen Beinen hindurchhuschten, die ihre Röcke hoben, um mir ihre schmutzigen Hintern zu zeigen, und in Richtung der oberen Stockwerke davonsprangen; dann sausten sie die Stufen wieder mit kreischendem Gelächter hinunter. Sie glichen kleinen gierigen Ratten, wie von sexueller Raserei gepackt: Eines stellte sich auf eine Stufe in Höhe meines Kopfes und spreizte die Beine weit auseinander, sodass es seine nackte glatte Scham entblößte; ein anderes biss mir in die Finger; ich packte es am Haar und zog es näher heran, um es zu ohrfeigen, aber ein drittes Mädchen schob mir von hinten die Hand zwischen die Beine, während sich das, das ich festhielt, zwischen meinen Armen wand, losriss und im Flur verschwand. Ich lief hinter ihm her, aber der Flur war schon leer. Für einen Moment betrachtete ich die geschlossenen Wohnungstüren, dann sprang ich vor und öffnete eine: Ich musste mich zurückwerfen, um nicht ins Leere zu stürzen, hinter dieser Tür war nichts, und ich knallte sie gerade noch rechtzeitig zu, bevor ein russisches Maschinengewehr sie durchlöcherte. Ich warf mich zu Boden: Eine Panzergranate detonierte an der Wand, ich war betäubt und mit Gipsschutt, Holzsplittern und alten Zeitungen bedeckt. Panisch kroch ich fort und rollte mich auf der anderen Seite des Flurs in eine Wohnung, die keine Eingangstür mehr hatte. Im Salon hörte ich, während ich keuchend nach Atem rang, deutlich ein Klavier; die Maschinenpistole im Anschlag, öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer: Dort lag eine sowjetische Leiche auf einem ungemachten Bett, und ein Hauptmann mit Schapka saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Schemel und lauschte einer Platte auf einem Grammofon,das auf dem Fußboden stand. Ich kannte die Melodie nicht und fragte ihn, was es sei. Er wartete, bis das Stück zu Ende war, ein anmutiges Rondo mit einem kleinen, ins Ohr gehenden Ritornell, und nahm die Platte hoch, um das Etikett anzusehen: »Daquin. Le coucou. « Er betätigte die Grammofonkurbel, holte eine weitere Platte aus einer orangefarbenen Papierhülle und setzte die Nadel auf. »Das werden Sie kennen.« In der Tat, es war das Rondo alla turca von Mozart, in einer schnellen und beschwingten Interpretation, die aber gleichzeitig von romantischem Ernst durchdrungen war; sicherlich ein slawischer Pianist. »Wer spielt das?«, fragte ich. »Rachmaninow, der Komponist. Kennen Sie ihn?« – »Ein wenig. Ich wusste nicht, dass er auch spielt.« Er reichte mir einen Plattenstapel. »Unser Freund muss ein besessener Musikliebhaber gewesen sein«, sagte er und zeigte auf das Bett. »Und er muss gute Beziehungen zur Partei gehabt haben, wenn man bedenkt, woher die Platten kommen.« Ich sah mir die Etiketten an: Sie trugen englische Aufschriften, diese Platten stammten aus den Vereinigten Staaten; dort spielte Rachmaninow Gluck, Scarlatti, Bach, Chopin sowie einige seiner eigenen Werke; die Aufnahmen stammten aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, schienen aber erst kürzlich veröffentlicht worden zu sein. Auch russische Platten waren dabei. Das Mozart-Stück endete, und der Offizier legte Gluck auf, die Klavierbearbeitung einer Melodie aus Orfeo ed Euridice , zart, wehmütig, unsäglich traurig. Mit dem Kinn wies ich auf das Bett: »Warum schaffen Sie ihn nicht raus?« – »Wozu? Er ist doch gut aufgehoben, da, wo er ist.« Ich wartete das Ende des Stücks ab, bevor ich ihn fragte: »Sagen Sie, haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?« – »Nein, warum? Brauchen Sie eins? Die Musik ist besser.« Ich wandte ihm den Rücken zu und verließ die Wohnung wieder. Als ich die nächste Tür öffnete, hockte dort das Mädchen, das mich gebissen hatte, und

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