Die Wohlgesinnten
sich auf die Zehenspitzen und federte ein paarmal auf und ab, wagte schließlich zu hüpfen. »Gut, scheint zu halten.« So würdevoll, wie es unter den Umständen möglich war, raffte er die Fetzen seiner Uniform zusammen und legte sie sich um den Bauch. Das klebrige Blut hielt sie recht und schlecht zusammen. »Mehr habe ich nicht gebraucht. Nadel und Faden sind hier ja wohl kaum zu finden.« Sein kleines krächzendes Lachen verwandelte sich in eine Schmerzgrimasse. »Was für eine Sauerei«, seufzte er. »Himmel«, fügte er hinzu, als er mein Gesicht sah, »du siehst ein wenig grün aus.«
Ich bestand nicht mehr darauf, die Metro zu nehmen, sondern begleitete Thomas zum Uniwermag zurück, auf das Ende gefasst. Die russische Offensive im Westen des Kessels hatte unsere Front vollkommen eingedrückt. Einige Tage später räumten wir Pitomnik unter unbeschreiblich chaotischen Umständen, die dazu führten, dass Tausende von Verwundeten in der gefrorenen Steppe zurückblieben; die Truppen und Stäbe fluteten wieder in die Stadt, sogar das AOK in Gumrak bereitete seinen Rückzug vor; die Wehrmacht verwies uns aus dem Bunker des Uniwermag und brachte uns vorläufig im ehemaligen Sitz des NKWD unter, einem einstmals schönen Gebäude mit einer großen Glaskuppel, die jetzt zersprungen war, und einem glänzenden Granitboden; allerdings war der Keller bereits von einer Sanitätseinheit mit Beschlag belegt, sodass wir mit den zerstörten Büros im ersten Stockvorliebnehmen mussten, um die wir uns im Übrigen noch mit Seydlitz’ Stab stritten (wie in einem Hotel mit Meerblick, wo alle Gäste Zimmer auf der einen Seite und nicht auf der anderen haben möchten). Doch all diese hektischen Ereignisse ließen mich kalt; nur ganz am Rande nahm ich die letzten Ereignisse zur Kenntnis, denn ich hatte einen wunderbaren Fund gemacht, eine Sophokles-Ausgabe. Das Buch war im Rücken auseinandergerissen, jemand hatte es teilen wollen, es waren leider nur Übersetzungen, aber Elektra , mein liebstes Stück, war erhalten geblieben. Ich vergaß die Fieberschauer, die meinen Körper erschütterten, den Eiter, der unter meinem Verband hervorsickerte, und verlor mich glückselig in den Versen. In dem Internat, in dem mich meine Mutter eingesperrt hatte, hatte ich mich, um der Brutalität der Umgebung zu entgehen, in meine Studien geflüchtet, wobei ich eine besondere Vorliebe für das Griechische entwickelte, was an unserem Lehrer lag, dem jungen Priester, von dem bereits die Rede war. Ich war damals noch keine fünfzehn, verbrachte aber meine ganze Freizeit in der Bibliothek, um die Ilias mit grenzenloser Hingabe und Geduld Zeile für Zeile zu entziffern. Zum Abschluss des Schuljahres führte unsere Klasse in der Turnhalle eine Tragödie auf, ebenjene Elektra , die für diesen Zweck etwas umgeschrieben worden war; für die Hauptrolle wurde ich ausersehen. Ich trug ein langes weißes Gewand, Sandalen, eine Perücke, deren schwarze Locken mir auf den Schultern tanzten: Als ich mich im Spiegel betrachtete, glaubte ich, Una zu sehen, und wäre fast ohnmächtig geworden. Wir waren seit nahezu einem Jahr getrennt. Als ich die Bühne betrat, war ich so eingenommen von dem Hass und der Liebe und der Empfindung meines jugendlichen jungfräulichen Körpers, dass ich nichts mehr sah, nichts mehr hörte; und als ich stöhnte: Geliebter Orest, wie hast du mich vernichtet, da du starbst! , liefen mir die Tränen übers Gesicht. Als Orest, von den Erinnyen besessen,wiederkehrte, schrie ich, geiferte ich meine Befehle in dieser schönen, erhabenen Sprache hinaus. Stoße doppelt zu, wenn du nur kannst! , heulte ich, ermutigte ihn, trieb ihn zu den Morden: Eilends, töte ihn, und wenn du ihn getötet, wirf ihn den Totengräbern vor, die dieser Mann verdient hat zu erlangen. Als es vorüber war, hörte ich den Applaus nicht, nicht die Worte, mit denen Pater Labourie mich beglückwünschte, sondern schluchzte, und das Gemetzel im Palast der Atriden war das Blut in meinem eigenen Haus.
Thomas, der sich von seinem Unfall vollkommen erholt zu haben schien, schalt freundschaftlich mit mir, doch ich beachtete ihn nicht. Um ihn zu necken, zitierte ich Joseph de Maistre, als ich einmal die Nase aus dem Sophokles hob: Was ist eine verlorene Schlacht? Eine Schlacht, die man glaubt verloren zu haben. Begeistert ließ Thomas diese Worte auf ein Schild malen und in unserem Flur aufhängen: Offenbar beglückwünschte Möritz ihn deswegen, und die neue Parole sprach sich
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