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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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der mir ein kleines Zeichen mit der Hand gab. Mein Ohr juckte schrecklich, ich hörte nichts mehr: Sogar Thomas’ Äußerungen erreichten mich nur noch als undeutliches Gurgeln, obwohl er direkt neben mir stand. Ich hatte den schrecklichen und beängstigenden Eindruck, einen Stummfilm zu erleben. Wütend riss ich mir den Verband ab und steckte den kleinen Finger in den Gehörgang; irgendetwas gab nach, ein Eiterstrom ergoss sich über meineHand und rann auf den Kragen meines Pelzmantels. Das verschaffte mir eine gewisse Erleichterung, aber ich hörte noch immer fast nichts; wenn ich das Ohr in Richtung des Klaviers wandte, so erklang dort ein Geräusch wie Wasserrauschen; mit dem anderen Ohr klappte es nicht besser; frustriert wandte ich mich ab und ging langsam fort. Das Sonnenlicht war wirklich strahlend, es hob an den zerschossenen Fassaden jede Einzelheit hervor. Hinter mir glaubte ich Unruhe zu vernehmen: Ich drehte mich um, Thomas und Iwan machten mir aufgeregt Zeichen, die anderen starrten mich an. Ich wusste nicht, was sie von mir wollten, aber es war mir peinlich, so viel Aufmerksamkeit zu erregen; mit einem kurzen freundlichen Winken setzte ich meinen Weg fort. Ich blickte noch einmal zurück: Iwan kam auf mich zugelaufen, doch ich wurde durch einen leichten Schlag gegen meine Stirn abgelenkt – ein Steinchen vielleicht oder ein Insekt, denn als ich dort hinfasste, lief mir ein kleiner Blutstropfen über den Finger. Ich wischte ihn ab und ging in Richtung Wolga weiter, die sich irgendwo auf dieser Seite befinden musste. In diesem Abschnitt wurde, soviel ich wusste, der Uferhang von unseren Truppen gehalten; aber ich hatte sie noch nie gesehen, diese viel gepriesene Wolga, und entschlossen schritt ich in diese Richtung, um den Fluss wenigstens einmal gesehen zu haben, bevor ich die Stadt verließ. Im Durcheinander der stillen, verlassenen Ruinen, von der kalten Januarsonne beschienen, waren die Straßen nur zu ahnen, es war sehr ruhig, was ich als äußerst angenehm empfand; falls geschossen wurde, hörte ich es nicht. Die eisige Luft belebte mich. Der Eiter floss mir nicht mehr aus dem Ohr, was mich hoffen ließ, dass der Infektionsherd endgültig aufgebrochen war; ich fühlte mich ausgeruht und voller Kraft. Hinter den letzten Gebäuden auf dem Steilufer über dem großen Strom lag noch ein verwahrloster Schienenstrang, die Gleise schon vom Rost angefressen. Dahinter erstrecktesich die weiße Fläche des im Eis gefangenen Flusses und dahinter das andere Ufer, dasjenige, das wir nie erreicht hatten, vollkommen flach und weiß und scheinbar leblos. Um mich herum war niemand, ich sah weder Schützengräben noch Stellungen, die Hauptkampflinie schien sich weiter oben zu befinden. Kühner geworden, kletterte ich die steile Sandböschung hinab und gelangte ans Flussufer. Zunächst zögernd, dann mutiger setzte ich erst einen Fuß auf das schneebedeckte Eis, dann noch einen: Ich ging auf der Wolga, und das machte mich glücklich wie ein Kind. Die Flocken, die ein leichter Wind vom Eis aufwirbelte, tanzten in der Sonne, wie kleine Kobolde spielten sie um meine Füße. Vor mir öffnete sich ein dunkles, ziemlich großes Loch im Eis, offenbar von der schweren Granate eines Kurzschusses geschlagen; das Wasser unter dem Loch floss rasch, fast grün im Sonnenlicht, kühl und verlockend; ich bückte mich und tauchte eine Hand hinein, es erschien mir nicht kalt: Es mit beiden Händen schöpfend, benetzte ich mir das Gesicht, das Ohr, den Nacken, dann trank ich mehrere Male hintereinander. Ich zog meinen Pelzmantel aus, faltete ihn sorgfältig zusammen, legte ihn mit meiner Mütze auf das Eis, holte tief Luft und tauchte ein. Das Wasser war klar und angenehm, von mütterlicher Wärme. Die schnelle Strömung erzeugte Strudel, die mich rasch unter das Eis zogen. Alle möglichen Dinge trieben dicht an mir vorbei, und ich erkannte sie deutlich in dem grünen Wasser: Pferde, deren Beine der Strom bewegte, als galoppierten sie, große, fast flache Fische, die sich von Abfall ernährten, russische Leichen mit aufgedunsenen Gesichtern, die noch in ihre merkwürdigen braunen Pelerinen gewickelt waren, Fetzen von Kleidungsstücken und Uniformen, durchlöcherte Standarten, die an ihren Stangen dahintrieben, ein Wagenrad, das, wohl in Öl getaucht, sich flammend unter Wasser drehte. Eine Leiche stieß gegen mich, dann setzte sie ihren Weg fort; sie trug einedeutsche Uniform; während sie sich entfernte, sah ich ihr Gesicht und ihre

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