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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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bis zu General Schmidt herum, der sie als Wahlspruch für die Armee übernehmen wollte; doch Paulus, so hörten wir, habe es abgelehnt. In gegenseitigem Einvernehmen sprachen Thomas und ich nicht mehr über die Evakuierung; trotzdem wussten alle, dass es nur noch eine Frage von Tagen war, und die glücklichen Auserwählten der Wehrmacht verließen den Kessel bereits. Ich versank in elende Gleichgültigkeit; nur die Angst vor Typhus schreckte mich von Zeit zu Zeit auf, dann gab ich mich nicht damit zufrieden, nur Augen und Lippen zu prüfen, sondern zog mich auch aus und suchte meinen Oberkörper nach schwarzen Flecken ab. An die Durchfälle verschwendete ich keinen Gedanken mehr, im Gegenteil, in den stinkenden Latrinen hockend, fand ich eine gewisse Ruhe; wie als Kind hätte ich mich dort gerne stundenlang eingeschlossen, um zu lesen, aber es gab weder Licht noch Türen, und daher musste ich mich damit begnügen, eine Zigarette zu rauchen, eine meinerletzten. Das inzwischen fast chronische Fieber war wie ein warmer Kokon, in dem ich mich zusammenrollte, und ich fand unsinnige Freude an meinem Schmutz, meinem Schweiß, meiner ausgetrockneten Haut, meinen brennenden Augen. Seit Tagen rasierte ich mich nicht mehr, ein dünner roter Bart trug zu diesem lustvollen Genuss der Unreinlichkeit und Vernachlässigung bei. Mein entzündetes Ohr eiterte und hallte gelegentlich wie vom dumpfen Klang einer Glocke oder Sirene wider; manchmal hörte ich gar nichts. Nach dem Fall von Pitomnik hatte sich das Geschehen einige Tage lang beruhigt; dann, so um den 20. Januar, begann das methodische Einschnüren des Kessels erneut (diese Daten zitiere ich aus Büchern, nicht aus dem Gedächtnis, denn der Kalender war für mich zum abstrakten Begriff geworden, zur flüchtigen Erinnerung an eine vergangene Welt). Auf die kurze Erwärmung am Jahresanfang war ein katastrophaler Temperatursturz gefolgt, wir mussten fünfundzwanzig oder dreißig Grad minus haben. Die dürftigen Feuer in leeren Ölfässern reichten nicht, um die Verwundeten zu erwärmen; selbst in der Stadt mussten sich die Soldaten zum Pinkeln den Schwanz mit einem Tuch umwickeln, einem stinkenden Lappen, den sie sorgsam in der Tasche aufbewahrten; andere nutzten diese Gelegenheiten, um ihre von Frostbeulen geschwollenen Hände unter den lauwarmen Strahl zu halten. All diese Einzelheiten kamen mir durch die schlafwandlerischen Mechanismen der Armee zu Ohren; ebenso schlafwandlerisch las und klassifizierte ich diese Berichte, nachdem ich ihnen ein Aktenzeichen gegeben hatte; doch ich selbst schrieb schon seit einiger Zeit keine mehr. Wenn Möritz Informationen wollte, raffte ich aufs Geratewohl einige Abwehrberichte zusammen und brachte sie ihm; vielleicht hatte Thomas ihm erklärt, dass ich krank war, denn er betrachtete mich eigenartig, sagte aber nichts. Thomas, um endlich auf ihn zu kommen, hatte mir meinen Schal noch nicht zurückgegeben, und wenn ichhinausging, um Luft zu schnappen, fror ich am Hals: Aber ich ging hinaus, der stickige Gestank in den Gebäuden wurde unerträglich. Thomas’ rasche Genesung verblüffte mich: Er schien sich wieder vollkommen wohlzufühlen, und als ich ihn fragte, wobei ich vielsagend die Augenbrauen hochzog und auf seinen Bauch blickte: »Und, geht es?«, sah er mich verdutzt an und erwiderte: »Ja, sehr gut, warum sollte es nicht gehen?« Meine Wunden und Fieberschübe hingegen besserten sich nicht, ich hätte sein Geheimnis gerne gekannt. An einem dieser Tage, wohl dem 20. oder 21., ging ich auf die Straße, um zu rauchen, und wenig später gesellte sich Thomas zu mir. Der Himmel war klar, wolkenlos, die Kälte schneidend, die Sonne, die überall durch die klaffenden Lücken der Fassaden brach, wurde glitzernd, blendend vom trockenen Schnee reflektiert und warf dort, wo sie kein Durchkommen fand, stahlblaue Schatten. »Hörst du?«, fragte Thomas, doch mein verrücktes Ohr klingelte, ich hörte nichts. »Komm!« Er zog mich am Ärmel. Wir gingen um das Gebäude herum und stießen auf ein seltsames Schauspiel: Zwei oder drei Landser, eingepackt in Decken oder Mänteln, standen mitten in der Gasse an einem Klavier. Ein Soldat hockte auf einem kleinen Stuhl und spielte, während die anderen aufmerksam zuzuhören schienen, doch ich vernahm nichts, das war merkwürdig und machte mich traurig: Auch ich hätte diese Musik gerne gehört, ich fand, ich hatte dazu das gleiche Recht wie jeder andere. Einige Ukrainer kamen auf uns zu; ich erkannte Iwan,

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