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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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einer begann hellsichtig, aus den Tatsachen und Karten seine objektiven Schlüsse zu ziehen; ich hatte darüber mit Thomas diskutiert; und er hatte sogar angedeutet, dass es Leute wie Schellenberg gab, die über die logischen Konsequenzen ihrer Schlussfolgerungen nachdachten und bereit waren, entsprechende Schritte ins Auge zu fassen. Über all das sprach ich selbstverständlich nicht mit meinen Kameraden im Unglück: Sie noch mehr zu entmutigen, ihnen leichtfertig das zu nehmen, was die Grundlage ihres aus dem Lot geratenen Lebens bildete, wäre vollkommen sinnlos gewesen. Ich kam wieder zu Kräften: Ich konnte mich jetzt anziehen und allein am Strand spazieren gehen, im Wind und unter den rauen Schreien der Möwen; meine linke Hand begann endlich, mir zu gehorchen. Gegen Ende des Monats (all das geschah im Februar 1943) fragte mich der Chefarzt nach einer Untersuchung, ob ich mich in der Lage fühle, das Heim zu verlassen: Angesichts der Geschehnisse fehle es an Platz und ich könne meine Genesung ebenso gut in der Familie fortsetzen. Ich erklärte ihm freundlich, eine Rückkehr in die Familie komme nicht in Frage, doch wenn er es wünsche, werde ich fortgehen, in die Stadt, in ein Hotel. Die Papiere, die er mir aushändigte, genehmigten mir drei Monate Genesungsurlaub.Also nahm ich den Zug und fuhr nach Berlin. Dort mietete ich mir ein Zimmer in einem guten Hotel, dem Eden in der Budapester Straße: eine geräumige Suite, mit Salon, Schlafzimmer und schönem, gefliestem Badezimmer; hier war das warme Wasser nicht rationiert, und täglich glitt ich in die Badewanne, um mich eine Stunde später mit krebsroter Haut und jagendem Herzen nackt auf mein Bett fallen zu lassen. Der schmale Balkon ging auf den Zoo: Wenn ich am Morgen aufstand und meinen Tee trank, sah ich den Pflegern zu, wie sie ihre Runde machten und die Tiere fütterten, was mir großes Vergnügen bereitete. Das war natürlich alles sehr teuer; doch ich hatte mit einem Schlag den Sold bekommen, der sich in einundzwanzig Monaten angesammelt hatte; mit den Zulagen war das ein hübsches Sümmchen, sodass ich mir durchaus das Vergnügen gönnen konnte, davon ein wenig auszugeben. Bei Thomas’ Schneider bestellte ich eine prächtige schwarze Uniform, auf die ich die neuen Insignien des Sturmbannführers nähen ließ und meine Orden anbrachte (neben dem Eisernen Kreuz und meinem Kriegsverdienstkreuz hatte ich noch kleinere Ehrenzeichen erhalten: für meine Verwundung, für den Winterfeldzug 41/42 – mit geringer Verspätung – und einen Parteiorden der NSDAP, den fast jeder bekam); obwohl kein großer Freund von Uniformen, musste ich zugeben, dass sie einen großartigen Anblick bot; es war eine Freude, so durch die Stadt zu schlendern, die Mütze etwas schief, die Handschuhe lässig zwischen den Fingern; wer wäre bei meinem Anblick auf den Gedanken gekommen, dass ich im Grunde ein Schreibstubenhengst war? Seit meiner Abreise hatte sich das Aussehen der Stadt verändert. Überall wurde sie durch die Schutzmaßnahmen gegen die Luftangriffe der Engländer entstellt: Ein riesiges Zirkuszelt aus Tarnnetzen mit Stofffetzen und Tannenzweigen bedeckte die Ost-West-Achse vom Brandenburger Tor bis weit zum Tiergarten und verdunkelte die Prachtstrecke sogar amhelllichten Tag; die Siegessäule hatte ihr Blattgold gegen einen scheußlichen braunen Anstrich und Tarnnetze vertauscht; auf dem Adolf-Hitler-Platz und andernorts waren Gebäudeattrappen errichtet, riesige Theaterkulissen, unter denen Autos und Straßenbahnen fuhren; den Zoo in der Nähe meines Hotels beherrschte ein fantastisches Bauwerk wie aus einem Albtraum, eine riesige mittelalterliche Bastei aus Beton, mit Geschützen gespickt, die Mensch und Tier vor den englischen Luftmördern schützen sollten: Ich war nicht begierig, dieses Monstrum in Aktion zu erleben. Doch ich muss zugeben, dass die Angriffe, sosehr sie die Bevölkerung schon damals in Schrecken versetzten, kaum mit dem zu vergleichen waren, was später kommen sollte. Fast alle guten Restaurants hatten aus Anlass der totalen Mobilmachung geschlossen; und Göring hatte zwar versucht, das Horcher , sein Lieblingslokal, zu schützen und eine Wache aufziehen lassen, doch Goebbels hatte in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Berlin einen spontanen Ausbruch des Volkszorns inszeniert, in dessen Verlauf alle Fenster eingeworfen worden waren; Göring hatte nachgeben müssen. Nicht nur Thomas und ich lachten über den Zwischenfall: In Ermangelung einer

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