Die Wohlgesinnten
Wissenschaft so sicher waren, durchquerte ein Loch meinen Kopf, ein schmaler kreisförmiger Korridor, ein absonderlicher Schacht, abgeschlossen, dem Denken unzugänglich; wenn das stimmte, war nichts mehr wie vorher, wie hätte es sein können? Meine Vorstellung von der Welt musste sich nun um dieses Loch herum neu ordnen. Doch alles, was ich an Konkretem sagen konnte, war: Ich bin erwacht, und nichts wird mehr sein wie vorher. Während ich noch über diese eindrucksvolle Frage nachdachte, wurde ich geholt und auf einer Bahre in einen Krankenwagen verfrachtet; eine der Krankenschwestern hatte mir in freundlicher Absicht das Kästchen mit dem Orden, den mir der Reichsführer angeheftet hatte, in die Tasche gesteckt. Ich kam nach Pommern, auf die Insel Usedom bei Swinemünde; dort, am Meer, lag ein SS-Genesungsheim, einschönes, geräumiges Gebäude; mein Zimmer war sehr hell und befand sich auf der Seeseite; am Tage konnte ich mich von einer Krankenschwester vor ein großes Fenster schieben lassen und hinausschauen: auf das träge graue Wasser der Ostsee, das gellende Spiel der Möwen, den kalt-feuchten, von Steinen durchsetzten Sandstrand. Die Flure und Gemeinschaftsräume wurden regelmäßig mit Karbol gereinigt, ich mochte diesen scharfen vieldeutigen Geruch, der mir die köstlichen Verfehlungen meiner Jugend ins Gedächtnis rief; auch die Krankenschwestern, blonde zarte Töchter des Nordens, rochen nach Karbol – vor allem ihre langgliedrigen Hände, so durchscheinend, dass sie fast blau wirkten –, weswegen die Genesungsurlauber sie untereinander Karbolmäuschen nannten. Bei diesen starken Gerüchen und Empfindungen bekam ich Erektionen, die mich überraschten, so wenig schienen sie mit meinem Selbst zu tun zu haben; die Krankenschwester, die mich wusch, lächelte und fuhr mit dem Schwamm darüber, mit derselben Gleichgültigkeit wie über alles andere; manchmal hielten sie ermüdend lange an, und ich wäre unfähig gewesen, mich zu erleichtern. Dass an jedem Tag die Sonne aufging, war für mich zu einer unerwarteten, verrückten und rätselhaften Angelegenheit geworden; und ein Körper war noch immer viel zu komplex für mich, ich musste mich den Dingen in kleinen Schritten nähern.
Das geregelte Leben auf dieser schönen kahlen und kalten Insel, die ganz in blasses Grau, Gelb und Blau getaucht war, gefiel mir gut; es gab auf ihr gerade genug Unebenheiten, an denen man sich festklammern konnte, um nicht vom Wind fortgetragen zu werden, jedoch nicht so viele, dass Hautabschürfungen zu befürchten gewesen wären. Thomas kam mich besuchen, er brachte Geschenke mit, eine Flasche Kognak und eine schön gebundene Nietzsche-Ausgabe; doch ich durfte nicht trinken, und zum Lesen war ich nicht in der Lage, der Sinn verflüchtigte sich, und das Alphabet machtesich über mich lustig; ich dankte ihm und verstaute die Geschenke in einer Kommode. Der eine Kragenspiegel seiner schönen schwarzen Uniform zeigte jetzt neben den vier silbergestickten Sternen noch einen Streifen, und auch die Mitte seines Schulterstücks zierte ein Stern: Er war zum SS-Obersturmbannführer ernannt worden, und auch ich war befördert worden, wie er mir mitteilte, der Reichsführer hatte es mir bei seiner Ordensverleihung erläutert, aber mir war diese Einzelheit entfallen. Ich war jetzt ein deutscher Held, im Schwarzen Korps war ein Artikel über mich erschienen; mein Orden, den ich mir nie angesehen hatte, war das Eiserne Kreuz Erster Klasse (daher hatte ich auch rückwirkend das EK II erhalten). Ich hatte keine Ahnung, womit ich mir das verdient hatte, doch Thomas versorgte mich bereits heiter und wortreich mit Informationen und Klatschgeschichten: Schellenberg hatte endlich Josts Platz an der Spitze des Amts VI eingenommen, Best war von der Wehrmacht aus Frankreich hinausgeworfen worden, doch der Führer hatte ihn zum Reichsbevollmächtigten für Dänemark ernannt; und der Reichsführer hatte sich endlich entschlossen, einen Nachfolger für Heydrich zu bestimmen, den Obergruppenführer Kaltenbrunner, das grobschlächtige, mit Schmissen übersäte Ungeheuer, das ich an der Seite des Reichsführers in meinem Krankenzimmer erblickt hatte. Der Name sagte mir so gut wie nichts, ich wusste nur, dass er HSSPF Donau war und im Allgemeinen für ziemlich unbedeutend gehalten wurde; Thomas war begeistert über diese Wahl, Kaltenbrunner war fast ein Landsmann von ihm, sprach die gleiche Mundart und hatte ihn bereits zum Abendessen eingeladen. Er selbst
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