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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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»Stalingrad-Diät« würde dem Reichsmarschall ein wenig Enthaltsamkeit nicht schaden. Zum Glück kannte Thomas Privatklubs, die von den neuen Vorschriften ausgenommen waren: Dort konnten sich die Gäste mit Hummer und Austern vollstopfen, die zwar teuer, aber nicht rationiert waren, und Champagner trinken, der in Frankreich selbst strengen Kontrollen unterlag, jedoch nicht in Deutschland; Fisch war leider ebenso wenig zu bekommen wie Bier. An diesen Orten herrschte, gemessen an der allgemeinen Stimmung, eine zuweilen merkwürdige Atmosphäre: Im Goldenen Hufeisen gab es eine schwarze Kellnerin, und weibliche Gäste konnten in einem kleinen Hippodrom auf ein Pferd steigen und ihre Beine zeigen; im Jockey Club spielte die Kapelle amerikanische Musik;getanzt werden durfte nicht, aber die Fotografien amerikanischer Filmschauspieler, sogar die Leslie Howards, blieben in der Bar an den Wänden.
    Rasch bemerkte ich, dass die Fröhlichkeit, die mit meiner Ankunft in Berlin von mir Besitz ergriffen hatte, an der Oberfläche haften blieb; darunter zerfiel alles auf bestürzende Weise, ich hatte das Gefühl, aus einem brüchigen Stoff zu bestehen, der sich beim leisesten Hauch auflöste. Wohin ich sah, verletzte mich der Anblick des alltäglichen Lebens – die Menge in den Straßen- oder S-Bahnen, das Lachen einer eleganten Frau, das Rascheln einer Zeitung – wie die Berührung einer scharfkantigen Glasscherbe. Ich hatte das Gefühl, das Loch in meiner Stirn habe sich für ein drittes Auge geöffnet, ein Scheitelauge, das nicht der Sonne zugewandt war, obwohl imstande, in ihr blendendes Licht zu sehen, sondern auf die Finsternis gerichtet, fähig, dem Tod ins Gesicht zu schauen, in sein nacktes Gesicht, das hinter jedem Gesicht aus Fleisch, unter dem Lachen, jenseits der Haut, egal, wie weiß und gesund sie war, und in den Tiefen der lachendsten Augen steckte. Die Katastrophe war bereits eingetreten, und sie bemerkten es nicht, denn die Katastrophe ist der Gedanke an die bevorstehende Katastrophe, der alles Gute noch vor Eintritt des Unheils verdirbt. Im Grunde, wiederholte ich voll bitterer Resignation, ist uns nur in den ersten neun Monaten Ruhe beschieden, danach jagt uns der Engel mit dem Flammenschwert auf immer durch das Tor, über dem Lasciate ogni speranza geschrieben steht; von da an haben wir nur noch den Wunsch zurückzukehren, doch die Zeit stößt uns unbarmherzig vorwärts, und am Ende ist nichts, absolut nichts. Diese Gedanken waren nicht im Mindesten originell, sie waren dem einfältigsten Soldaten zugänglich, der, in den Schneewüsten des Ostens verloren, dem Schweigen lauscht und weiß, wie nahe der Tod und wie unendlich kostbar jedes Einatmen ist, jeder Herzschlag, der kalte, schneidende Geruchder Luft, das Wunder des Tageslichts. Doch die Entfernung von der Front ist wie eine moralische Fettschicht, und wenn ich diese zufriedenen Menschen betrachtete, bekam ich gelegentlich Atemnot, ich hätte schreien mögen. Ich ging zum Friseur: da, vor dem Spiegel, plötzlich und unerklärlich, die Angst. Es war ein weißer Raum, sauber, steril, modern, ein Salon von diskreter Kostspieligkeit; ein oder zwei Kunden in den anderen Stühlen. Der Friseur hatte mich in einen langen schwarzen Kittel gesteckt, unter diesem Umhang klopfte mein Herz wie rasend, meine Eingeweide versanken in feuchter Kälte, Panik überschwemmte meinen ganzen Körper, und in den Fingerspitzen kribbelte es. Ich betrachtete mein Gesicht: Es war ruhig, aber hinter dieser Ruhe hatte die Angst alles ausgelöscht. Ich schloss die Augen: Das regelmäßige Schnipp, Schnipp der kleinen geduldigen Schere des Friseurs klang in meinen Ohren: Ja, dachte ich auf dem Rückweg, sag dir nur immer wieder, dass alles gut wird, wer weiß, am Ende überzeugst du dich noch selbst. Aber es gelang mir nicht, mich zu überzeugen, ich verlor den Halt. Dabei hatte ich keines der körperlichen Symptome, die mich in der Ukraine oder in Stalingrad heimgesucht hatten: keine Übelkeitsanfälle, ich übergab mich nicht, meine Verdauung war in bester Ordnung. Nur auf der Straße hatte ich den Eindruck, auf Glas zu gehen, das unter meinen Füßen jederzeit zerspringen konnte. Das Leben verlangte, den Dingen eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, die mich erschöpfte. In einer kleinen ruhigen Straße in der Nähe des Landwehrkanals entdeckte ich auf einem Fenstersims im Erdgeschoss einen langen Frauenhandschuh aus blauem Satin. Ohne nachzudenken nahm ich ihn im Vorbeigehen

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