Die Wohlgesinnten
Maschine gebracht, eine der letzten. Du hättest die Gesichter in Melitopol sehen sollen, als ich angekommen bin. Aus Angst vor Läusen wollte mir niemand die Hand geben. Abgesehen von Manstein, er drückte allen die Hand. Außer mir gab es fast nur Panzeroffiziere. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Hube die Listen für Milch aufstellte. Du kannst niemandem trauen.« Ich ließ mich in die Kissen sinken und schloss die Augen. »Wer ist außer uns noch rausgekommen?« – »Außer uns? Nur Weidner – erinnerst du dich an den? – von der Gestapostelle. Auch Möritz hat einen Versetzungsbefehl bekommen, aber er ist spurlos verschwunden. Wir sind nicht mal sicher, dass er rausgekommen ist.« – »Und der Kleine? Dein Kamerad, der sich einen Granatsplitter eingefangen hatte und so glücklich darüber war?« – »Vopel? Er ist noch ausgeflogen worden, bevor du verwundet worden bist, aber seine Heinkel ist beim Start von einer Schturmowik erwischt worden.« – »Und Iwan?« Er holte ein silbernes Zigarettenetui heraus: »Du erlaubst? Ja? Iwan? Nun, er ist natürlich geblieben. Du glaubst doch nicht etwa, dass sie einem Ukrainer den Platz eines Deutschen überlassen hätten?« – »Ich weiß nicht. Er hat schließlich auch für uns gekämpft.« Er nahm einen Zug und sagte lächelnd: »Das ist falsch verstandener Idealismus. Ich sehe, dass dein Kopfschuss dich noch nicht zur Vernunft gebracht hat. Du solltest glücklich sein, dass du lebst.« Glücklich, dass ich lebte? Das erschien mir ebenso anstößig wie geboren zu sein.
Tag für Tag kamen neue Verwundete herein: Sie trafen aus Kursk, Rostow, Charkow ein, aus all den Städten, die die Sowjets nacheinander zurückeroberten – auch aus Kasserin; ein paar Worte mit den zuletzt Gekommenen waren weitaufschlussreicher als alle Wehrmachtsberichte. Diesen Berichten, mit denen wir in den Gemeinschaftsräumen aus kleinen Lautsprechern berieselt wurden, ging immer die Einleitung der Bach-Kantate Ein feste Burg ist unser Gott voraus; allerdings hatte sich die Wehrmacht für die Bearbeitung von Wilhelm Friedemann, Johann Sebastians liederlichem Sohn, entschieden, der die klare Instrumentierung des Vaters durch drei Trompeten und eine Pauke ergänzt hat; für mich Vorwand genug, um den Saal jedes Mal fluchtartig zu verlassen, entging ich doch auf diese Weise der Flut plumper Euphemismen, die gelegentlich gut zwanzig Minuten andauerte. Ich hatte nicht als Einziger eine gewisse Abneigung gegen diese Berichte an den Tag gelegt; eine Krankenschwester, die ich während dieser Zeiträume häufig antraf, wie sie ostentativ mit irgendwelchen Aufgaben auf der Terrasse beschäftigt war, erzählte mir eines Tages, dass die meisten Deutschen erst in dem Augenblick von der Einkesselung der 6. Armee hörten, als sie auch von ihrer Vernichtung erfahren hätten, was nicht dazu beigetragen habe, den moralischen Schock abzumildern. Das war nicht ohne Folgen für die Volksgemeinschaft geblieben; die Menschen sprachen darüber und kritisierten es offen; in München hatte es sogar eine Art Studentenrevolte gegeben. Das hatte ich natürlich weder aus dem Radio noch von den Krankenschwestern oder Patienten erfahren, sondern von Thomas, der in seiner neuen Stellung jetzt gut über solche Ereignisse informiert war. Es waren staatsfeindliche Flugblätter verteilt und defätistische Parolen an die Hauswände geschmiert worden; die Gestapo musste energisch eingreifen, und die Rädelsführer waren bereits verurteilt und hingerichtet, größtenteils fehlgeleitete junge Menschen. Zu den weiteren Folgen der Katastrophe war leider auch die spektakuläre Rückkehr des Dr. Goebbels ins politische Rampenlicht zu zählen: Seine Verkündung des Totalen Krieges im Sportpalast war uns ebenfalls in ganzer Länge in einerRadiosendung übertragen worden, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, ihr auszuweichen; in einem SS-Genesungsheim verstand man in dieser Hinsicht unglücklicherweise überhaupt keinen Spaß.
Die schönen jungen Männer von der Waffen-SS, die die Zimmer füllten, waren größtenteils in einem beklagenswerten Zustand: Oft fehlte ihnen ein Stück vom Arm oder Bein oder sogar der Kiefer – die Stimmung war nicht immer sehr fröhlich. Doch ich stellte mit Interesse fest, dass nahezu alle ungeachtet dessen, was ihnen einfachstes Nachdenken oder Kartenstudium sagen musste, ihrem Glauben an Endsieg und Führer unbeirrt treu blieben. Das galt nicht für alle Deutschen, manch
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