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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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brachte sie zu ihrem Hotel in der Nähe des Anhalter Bahnhofs; sie lud mich zu einem Glas auf ihr Zimmer ein, doch ich lehnte freundlich ab; meine Höflichkeit hatte ihre Grenzen. Nachdem ich gegangen war, überkam mich eine fieberhafte Unruhe: Was hatte es für einen Sinn, meine Zeit derart zu vergeuden? Was ging mich dieser Klatsch und Tratsch über unseren Führer an? Wie kam ich dazu, mich derart vor dieser aufgedonnerten Ziege aufzuspielen, die im Grunde nur eines von mir wollte? Ein wenig Ruhe wäre besser gewesen. Doch selbst in meinem erstklassigen Hotel fand ich die nicht: Im Stockwerk unter mir wurde ein lärmendes Fest gefeiert, die Musik, die Schreie und das Lachen drangen durch die Decke und legten sich mir auf die Brust. In der Dunkelheit auf meinem Bett dachte ich an die Männer der 6. Armee: Das geschilderte Abendessen fand Anfang März statt, es war also mehr als einen Monat her, dass sich die letzten Einheiten ergeben hatten; die Überlebenden, von Ungeziefer und Fieber aufgezehrt, mussten sich in diesem Augenblick, in dem ich so mühsam die Nachtluft Berlins einatmete, auf dem Weg nach Sibirien oder Kasachstan befinden; für sie gab es keine Musik, kein Lachen, nur Schreie ganz anderer Art. Und es galt nicht nur für sie, es galt für alle, die ganze Welt wand sich in Qualen, da gehörte es sich nicht, dass die Menschen sich amüsierten, jedenfalls nicht sofort, man müsste etwas warten, eine Anstandsfrist verstreichen lassen. Eine eklige, erbärmliche Angst stieg in mir auf und erstickte mich. Ich stand auf, wühlte in der Schublade meines Schreibtisches, holte meine Dienstwaffe heraus, überzeugte mich davon, dass sie geladen war, und legte sie zurück. Ich sah auf die Uhr: zwei Uhr morgens. Ich zogmeine Uniformjacke an (ich hatte mich nicht ausgezogen) und ging hinunter, ohne sie zuzuknöpfen. An der Rezeption verlangte ich das Telefon und rief Thomas in seiner Mietwohnung an: »Entschuldige, dass ich dich so spät anrufe.« – »Das macht doch nichts. Was ist?« Ich berichtete ihm von meinen mörderischen Impulsen. Zu meiner Überraschung reagierte er nicht ironisch, sondern sagte sehr ernst: »Deine Reaktion ist normal. Das sind Dreckschweine, Kriegsgewinnler. Aber wenn du sie über den Haufen schießt, kriegst du trotzdem Ärger.« – »Was schlägst du vor?« – »Geh hin und sprich mit ihnen. Wenn sie weiter Lärm machen, zeigen wir sie an. Dann lasse ich Freunde kommen.« – »Gut, ich gehe hin.« Ich legte auf und stieg in das Stockwerk unter dem meinen hinauf; mühelos fand ich die richtige Tür und klopfte. Eine hochgewachsene schöne Frau in etwas aufgelöster Abendkleidung öffnete, ihre Augen glänzten. »Ja, bitte?« Im Hintergrund dröhnte die Musik, ich hörte Gläserklirren und ausgelassenes Lachen. »Ist das Ihr Zimmer?«, fragte ich mit klopfendem Herzen. »Nein, warten Sie.« Sie wandte sich um: »Dicky! Dicky! Ein Offizier will dich sprechen.« Ein angetrunkener Mann im Jackett kam an die Tür; die Frau betrachtete uns mit unverhohlener Neugier. »Ja, Herr Sturmbannführer? Was kann ich für Sie tun?« Seine affektierte, liebenswürdige, fast verschleierte Stimme verriet den Aristokraten aus alter Familie. Ich machte eine knappe Verbeugung und begann in möglichst neutralem Ton: »Ich wohne im Zimmer über Ihnen. Ich komme gerade aus Stalingrad zurück, wo ich schwer verwundet wurde und wo fast alle meine Kameraden gefallen sind. Ihre Feier stört mich. Ursprünglich wollte ich herunterkommen und Sie töten, aber ich habe mit einem Freund telefoniert, und er hat mir geraten, zuerst mit Ihnen zu sprechen. Hier bin ich also, um mit Ihnen zu sprechen. Es wäre besser für uns alle, wenn ich nicht noch einmal herunterkommen müsste.« Der Mann war bleich geworden:»Nein, nein …« Er wandte sich um: »Gofi! Stell die Musik ab! Abstellen!« Er sah mich an: »Verzeihen Sie uns. Wir hören sofort damit auf.« – »Danke.« Als ich einigermaßen zufrieden die Treppe hinaufging, hörte ich ihn schreien: »Alles raus hier! Das war’s. Verzieht euch!« Ich hatte bei ihm einen Nerv getroffen, und es hatte nichts mit Angst zu tun: Auch er hatte plötzlich begriffen und sich geschämt. In meinem Zimmer war es jetzt ganz ruhig; die einzigen Geräusche stammten von hin und wieder vorbeifahrenden Autos und dem Trompeten eines schlaflosen Elefanten. Trotzdem beruhigte ich mich nicht: Mein Vorgehen erschien mir wie eine Inszenierung, ausgelöst durch ein dunkles echtes Gefühl, dann aber

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