Die Wohlgesinnten
seiner Dienststelle in der Prinz-Albrecht-Straße, sondern verabredete sich mit mir im Hauptsitz von Sipo und SD in der Wilhelmstraße gleich nebenan. Nur ein paar Schritte von Görings Reichsluftfahrtministerium entfernt – einem riesigen Betonklotz, in sterilem und pompösem Neoklassizismus –, erwies sich das Prinz-Albrecht-Palais als das genaue Gegenteil: ein kleiner Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, elegant und klassizistisch, der im 19. Jahrhundert von Schinkel geschmackvoll und zurückhaltenderneuert und seit 1934 vom Staat an die SS vermietet worden war. Ich kannte das Gebäude gut; vor meiner Abreise nach Russland hatte sich dort meine Dienststelle befunden, ich war manche Stunde in seinem Park spazieren gegangen, einem kleinen Meisterwerk von Lenné, voll harmonischer Asymmetrie und Abwechslung. Zur Straße hin verbargen Bäume und eine große Kolonnade die Fassaden; die Posten in ihren schwarz-weiß-roten Schilderhäuschen nahmen Haltung an, als ich vorbeiging, doch eine zweite, unauffälligere Wache überprüfte meine Papiere in einem kleinen Wachlokal neben dem Blumenbeet und ließ mich dann zum Empfang bringen. Thomas erwartete mich: »Wollen wir in den Park? Es ist mild.« Der Garten, in den wir über einige mit großen Blumentöpfen bestandene Stufen gelangten, erstreckte sich vom Palais bis zum Europahaus, einem mächtigen modernistischen Würfel am Askanischen Platz – ein bemerkenswerter Kontrast zu den stillen, mäandernden Wegen zwischen umgegrabenen Blumenbeeten, kleinen runden Teichen und noch kahlen Bäumen, an denen sich aber schon die ersten spitzen Knospen zeigten. Niemand war zu sehen. »Kaltenbrunner kommt nie her«, erläuterte Thomas, »deshalb ist es ruhig.« Heydrich war hier gern spazieren gegangen; aber zu seiner Zeit hatte niemand sonst Zutritt gehabt, nur die, die er eingeladen hatte. Wir schlenderten zwischen den Bäumen umher, und ich berichtete Thomas von den wesentlichen Punkten meines Gesprächs mit Mandelbrod. »Er übertreibt«, entschied er, als ich fertig war. »Die Juden sind tatsächlich ein Problem, und wir müssen uns mit ihm befassen, aber das kann kein Selbstzweck sein. Es geht nicht darum, Menschen zu töten, sondern für die Volkshygiene zu sorgen; die physische Eliminierung ist ein Teil der hygienischen Maßnahmen. Wir müssen uns hüten, eine Obsession daraus zu machen, es gibt genügend andere, genauso wichtige Probleme. Meinst du wirklich, dass er alles glaubt, was er sagt?« – »Ichhatte schon den Eindruck. Warum?« Thomas dachte einen Augenblick nach; der Kies knirschte unter unseren Stiefeln. »Weißt du«, fuhr er schließlich fort, »für viele ist der Antisemitismus ein Instrument. Da es sich um ein Thema handelt, das dem Führer am Herzen liegt, ist es ein geschätztes Mittel geworden, sich bei ihm beliebt zu machen: Wenn es dir gelingt, eine wichtige Rolle bei der Lösung der Judenfrage zu spielen, machst du weit schneller Karriere, als wenn du dich, sagen wir, mit den Zeugen Jehovas oder den Homosexuellen befasst. Insofern kann man sagen, dass der Antisemitismus zum Karrieresprungbrett des nationalsozialistischen Staates geworden ist. Erinnerst du dich noch, was ich dir im November 38, nach der Reichskristallnacht, gesagt habe?« Ja, ich erinnerte mich. Am Tag nach den SA-Krawallen hatte ich Thomas getroffen, er war stinkwütend gewesen. »Diese Idioten!«, hatte er hervorgestoßen und sich in die Nische der Bar gequetscht, in der ich auf ihn gewartet hatte. »Diese saublöden Idioten.« – »Wer, die SA-Leute?« – »Quatsch. Das hat die SA doch nicht allein gemacht.« – »Und wer hat dann die Befehle gegeben?« – »Goebbels, dieser widerwärtige Klumpfuß. Schon seit Jahren juckt es ihm in den Fingern, sich in die Judenfrage einzumischen. Aber jetzt hat er Scheiße gebaut.« – »Trotzdem, findest du nicht, dass es Zeit war, etwas Handfestes zu unternehmen? Schließlich …« Mit einem kurzen bitteren Auflachen hatte er gesagt: »Natürlich muss was geschehen. Der Kelch wird an den Juden schon nicht vorübergehen – sie werden ihn bis zur bitteren Neige leeren. Aber nicht so. Das ist einfach saudämlich . Hast du die geringste Vorstellung, was das kosten wird?« Mein leerer Blick hatte ihn wohl in seiner Annahme bestätigt, denn er fuhr fast ohne Pause fort: »Wem gehören denn deiner Meinung nach all die zerschlagenen Schaufenster? Den Juden? Die Juden mieten ihre Läden nur. Für solche Schäden muss immer der Eigentümer aufkommen.
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