Die Wohlgesinnten
gefährlicher eine Aufgabe war, desto mehr Männer drängten sich, sie zu übernehmen. Dein Vater zum Beispiel war der Ansicht, die Schwierigkeit an sich sei Grund genug, etwas zu tun und es möglichst gut zu tun. Dein Großvater war von gleichem Schlage. Heute sind die Deutschen trotz aller Anstrengungen des Führers schlapp geworden, unentschlossen, kompromisslerisch.« Ich empfand die versteckte Beleidigung wie eine Ohrfeige: »Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Habe ich Sie richtig verstanden, Sie kannten meinen Großvater?« Mandelbrod stellte seine Tasse ab: »Natürlich. Er hat in unserer Anfangszeit ebenfalls für uns gearbeitet. Ein erstaunlicher Mann.« Er zeigte mit seiner aufgeschwemmten Hand auf den Schreibtisch. »Sieh einmal dort.« Ich gehorchte. »Siehst du da die Ledermappe? Bring sie mir.« Ich kehrte zu ihm zurück und gab sie ihm. Er legte sie sich auf die Knie, öffnete sie und zog eine Fotografie heraus, die er mir reichte. »Schau, hier!« Es war ein altes verblasstes Sepiafoto: drei Personen nebeneinander vor tropischen Bäumen. Die Frau in der Mitte hatte ein kleines herzförmiges Gesicht, das noch die Rundlichkeit der Jugend aufwies; die beiden Männer trugen helle Sommeranzüge: Der linke, mit schmalem Gesicht, etwas weichlichen Zügen und einer Haarsträhne im Gesicht, trug einen Schlips; der rechte, mit offenem Kragen, hatte ein kantiges Gesicht, wie gemeißelt; selbst eine gefärbte Brille vermochte die heitere grausame Intensität seiner Augen nicht zu kaschieren. »Welcher ist mein Großvater?«, fragte ich fasziniert, aber auch beklommen. Mandelbrod zeigte auf den Mann mit Schlips. Ich sah ihn mir noch einmal genauer an: im Gegensatz zu dem anderen hatte er fast transparente Augen, die nichts verrieten. »Und die Frau?«, fragte ich wieder, obwohl ich es bereits ahnte. »Deine Großmutter Eva. Eine prachtvolle,wunderbare Frau.« Tatsächlich kannte ich weder ihn noch sie: Meine Großmutter war lange vor meiner Geburt gestorben, und an die seltenen Besuche bei meinem Großvater in meiner Kindheit konnte ich mich überhaupt nicht erinnern. Er war kurz nach dem Verschwinden meines Vaters gestorben. »Und wer ist der andere Mann?« Mandelbrod blickte mich mit hintergründigem Lächeln an. »Kannst du es dir nicht denken?« Ich sah ihn an: »Nicht möglich!«, rief ich. Immer noch lächelnd, sagte er: »Warum? Denkst du etwa, ich hätte schon immer so ausgesehen?« Verlegen stammelte ich: »Nein, nein, das wollte ich nicht sagen, Herr Doktor! Aber Ihr Alter … Auf dem Foto … man könnte meinen, Sie wären genauso alt wie mein Großvater.« Eine andere Katze, die auf dem Teppich spazieren ging, sprang geschmeidig auf die Rückenlehne des Sessels, kletterte auf seine Schulter und rieb sich an seinem riesigen Kopf. Wieder nieste Mandelbrod. »Ich war sogar älter als er«, sagte er zwischen zwei Niesanfällen, »aber ich habe mich gut gehalten.« Noch immer nahm ich begierig alle Einzelheiten des Fotos in mich auf: Was konnte es mir alles verraten! Schüchtern fragte ich: »Kann ich es behalten, Herr Doktor?« – »Nein.« Enttäuscht gab ich es ihm zurück; er tat es in die Mappe und ließ sie mich wieder auf seinem Schreibtisch ablegen. Ich kehrte auf meinen Platz zurück. »Dein Vater war ein echter Nationalsozialist«, erklärte Mandelbrod, »und das schon, als es die Partei noch gar nicht gab. Die Menschen jener Epoche lebten unter dem Einfluss falscher Ideen: Die einen verstanden unter Nationalismus einen blinden, beschränkten Patriotismus, einen Lokalpatriotismus, der an großer innenpolitischer Ungerechtigkeit krankte; für ihre Gegner bedeutete der Sozialismus eine falsche internationale Klassengleichheit und den Klassenkampf innerhalb einer jeden Nation. In Deutschland gehörte dein Vater zu den Ersten, die verstanden, dass alle Volksgenossen in gegenseitiger Achtung die gleiche Rollespielen müssten, aber nur innerhalb ihrer Nation. Alle großen Völker der Geschichte sind auf ihre Weise national und sozialistisch gewesen. Nimm Temüdschin, den Ausgeschlossenen: Erst als er diese Idee durchsetzen und die Stämme auf ihrer Grundlage vereinigen konnte, waren die Mongolen in der Lage, die Welt zu erobern – im Namen dieses Deklassierten, der zum »ozeanischen Herrscher« Dschingis Khan aufstieg. Ich habe dem Reichsführer ein Buch über ihn zu lesen gegeben, und er war davon sehr beeindruckt. Mit großer, unbarmherziger Klugheit haben die Mongolen alles, was vor ihnen lag, dem
Weitere Kostenlose Bücher