Die Wohlgesinnten
erstbesten Gelegenheit, bei der Aussicht auf eine gute Partie, hopp!, legen sie sich auf den Rücken und machen die Beine breit. Meine Bitterkeit war grenzenlos. Das schien mir das unvermeidliche Ende einer alten Geschichte zu sein, die mich unaufhörlich verfolgte: meiner Familiengeschichte, die es von jeher, oder fast von jeher, hartnäckig darauf angelegt hatte, jede Spur von Liebe in meinem Leben zu vernichten. Noch nie hatte ich mich so allein gefühlt. Als ich mich ein wenig erholt hatte, schrieb ich ihr einen steifen, höflichen Brief, in dem ich ihr gratulierte und viel Glück wünschte.
Zu der Zeit begann meine Freundschaft mit Thomas, wir waren schon per Du, und ich bat ihn, Erkundigungen über ihren Verlobten, Karl Berndt Egon Wilhelm, Freiherr von Üxküll, einzuholen. Dieser deutschbaltische Aristokrat war erheblich älter als sie und obendrein gelähmt. Ich verstand das nicht. Thomas brachte Einzelheiten in Erfahrung: Üxküll hatte sich während des Weltkriegs ausgezeichnet und ihn als Oberst mit dem Pour le Mérite beendet; anschließend hatte er in Kurland ein Regiment der Landeswehr gegen die roten Letten geführt. Dort, auf seinen Gütern, hatte ihn eine Kugel ins Rückgrat getroffen, und von der Tragbahre aus hatte er, bevor er zum Rückzug gezwungen war, Feuer an den Stammsitz seiner Familie legen lassen, damit die Bolschewiken ihn nicht mit ihren Ausschweifungen und ihrer Scheiße besudeln . Seine Akte beim SD war ziemlich umfangreich: Ohne direkt als Opponent zu gelten, war er offenbar bestimmten Behörden ein Dorn im Auge. In der Weimarer Republik hatte er es als Komponist moderner Musik zu europäischem Ruhm gebracht, wurde zu einem Freund und Bewunderer Schönbergsund hatte mit Musikern und Schriftstellern in der Sowjetunion korrespondiert. Nach der Machtergreifung hatte er außerdem Strauss’ Angebot zum Eintritt in die Reichsmusikkammer abgelehnt, was praktisch das Ende seiner öffentlichen Karriere bedeutete; ebenso hatte er sich geweigert, Parteimitglied zu werden. Er lebte zurückgezogen auf dem Gut seiner Familie mütterlicherseits, einem pommerschen Herrenhaus, das er nach der Niederlage der Bermondt-Armee und der Räumung Kurlands als Wohnsitz gewählt hatte. Er verließ es nur, um in der Schweiz zu kuren; die Berichte der Partei und der örtlichen SD-Dienststelle besagten, dass er selten Gäste empfing und noch seltener ausging. Er vermied jeden gesellschaftlichen Verkehr, auch in der näheren Umgebung. »Ein höchst seltsamer Bursche«, meinte Thomas abschließend. »Ein verbitterter und verklemmter Aristokrat, ein Relikt. Und warum hat deine Schwester einen Krüppel geheiratet? Hat sie einen Krankenschwester-Komplex?« In der Tat, warum? Als ich eine Einladung zur Hochzeit bekommen hatte, die in Pommern gefeiert werden sollte, hatte ich meine Studien vorgeschoben. Wir waren damals fünfundzwanzig Jahre alt, und ich hatte das Gefühl, dass alles, was wirklich unser gewesen war, starb. Das Restaurant füllte sich: Ein Kellner schob Üxküll im Rollstuhl herein, und Una trug meine Mütze unter dem Arm. »Hier!«, sagte sie fröhlich und küsste mich auf die Wange. »Die hast du vergessen.« – »Ja, danke«, sagte ich und spürte, dass ich rot wurde. Ich gab Üxküll die Hand; während der Kellner einen Stuhl fortnahm, erklärte ich etwas feierlich: »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron.« – »Ganz meinerseits, Herr Sturmbannführer, ganz meinerseits.« Una schob ihn an seinen Platz, und ich wählte den Stuhl ihm gegenüber; Una setzte sich zwischen uns. Üxküll hatte ein strenges Gesicht, sehr schmale Lippen, das graue Haar im Bürstenschnitt. Doch seine braunen Augen erschienen manchmal überraschend heiter,von Lachfältchen umgeben. Er war einfach gekleidet, in einem Anzug aus grauem Wollstoff, mit Strickkrawatte, ohne Orden und mit einem goldenen Siegelring als einzigem Schmuck, den ich bemerkte, als er seine Hand auf die Unas legte: »Was möchtest du trinken, meine Liebe?« – »Wein.« Una wirkte sehr fröhlich, glücklich; ich fragte mich, ob sie sich dazu zwang. Üxkülls Steifheit dagegen schien vollkommen natürlich zu sein. Der Wein kam, und Üxküll fragte mich nach meiner Verwundung und Genesung. Er trank, während er mir zuhörte, aber sehr langsam, in kleinen Schlucken. Da ich nicht recht wusste, was ich sagen sollte, fragte ich ihn, ob er seit seiner Ankunft in Berlin schon im Konzert gewesen sei. »Es gibt nichts, was mich
Weitere Kostenlose Bücher