Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
hinausgegangen. Draußen war es kalt, und sie fröstelte. Da sie ein bisschen torkelte, fasste ich sie unter dem Arm, und sie hakte sich bei mir ein. »Komm mit zu mir«, hatte ich zu ihr gesagt, »in mein Hotel.« Mit etwas belegter Stimme hatte sie protestiert: »Sei nicht dumm, Max. Wir sind keine Kinder mehr.« – »Komm!«, hatte ich nachgehakt. »Nur ein bisschen reden.« Aber wir waren in der Schweiz, und selbst in einem solchen Hotel machten die Angestellten Schwierigkeiten: »Tut mir leid, mein Herr. Nur Hotelgäste dürfen auf die Zimmer. Sie können in die Bar gehen, wenn Sie möchten.« Una wollte die angegebeneRichtung einschlagen, aber ich hielt sie zurück. »Nein. Ich mag nicht unter Menschen. Lass uns zu dir gehen.«
    Sie widersetzte sich nicht und führte mich in ihre Studentenbude – klein, vollgestopft mit Büchern, eisig kalt. »Warum heizt du nicht?«, fragte ich und kratzte den Ofen aus, um ein Feuer zu machen. Sie zuckte die Achseln und zeigte mir eine Flasche Weißwein, Fendant aus dem Wallis. »Das ist alles, was ich habe. Ist er dir recht?« – »Alles ist mir recht.« Ich öffnete die Flasche und füllte zwei Gläser, die sie lachend hielt, bis zum Rand. Sie trank, dann setzte sie sich aufs Bett. Ich war angespannt, verkrampft; ich ging zum Tisch und entzifferte die Rückentitel der aufeinandergestapelten Bücher. Die meisten Namen kannte ich nicht. Wahllos griff ich eines heraus. Una sah es und lachte wieder, ein schrilles Lachen, das mir durch Mark und Bein ging. »Ah, Rank! Rank ist gut.« – »Wer ist das?« – »Ein ehemaliger Schüler von Freud und ein Freund von Ferenczi. Hat ein schönes Buch über den Inzest geschrieben.« Ich wandte mich zu ihr um und blickte sie an. Sie hörte auf zu lachen. »Warum sagst du dieses Wort?«, fragte ich sie schließlich. Sie zuckte die Achseln und hielt mir ihr Glas hin. »Hör mit deinen Dummheiten auf«, sagte sie. »Gieß mir lieber noch Wein ein.« Ich legte das Buch fort und ergriff die Flasche: »Das sind keine Dummheiten.« Sie zuckte erneut die Achseln. Ich schenkte ihr nach, und sie trank. Ich näherte mich ihr, die Hand ausgestreckt, um ihr dichtes Haar zu berühren, ihr schönes schwarzes Haar. »Una …« Sie schob meine Hand fort. »Hör auf, Max!« Sie schwankte etwas, und ich schob ihr die Hand unter das Haar, streichelte ihr die Wange, den Hals. Sie versteifte sich, stieß die Hand aber nicht mehr zurück, trank wieder. »Was willst du, Max?« – »Ich möchte, dass alles wieder ist wie vorher«, sagte ich mit klopfendem Herzen. »Das ist unmöglich.« Sie klapperte ein bisschen mit den Zähnen, trank erneut. »Schon vorher war es nicht wie vorher. Ein Vorher hat es niegegeben.« Sie fantasierte, die Augen geschlossen. »Gib mir noch Wein.« – »Nein.« Ich nahm ihr das Glas weg und beugte mich vor, um sie auf die Lippen zu küssen. Heftig stieß sie mich zurück, dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel rücklings aufs Bett. Ich stellte ihr Glas ab und näherte mich ihr. Sie rührte sich nicht, ihre bestrumpften Beine hingen zum Bett hinaus, der Rock war ihr über die Knie hinaufgerutscht. Das Blut pochte mir in den Schläfen, ich war verstört, in diesem Augenblick liebte ich sie mehr als jemals zuvor, mehr noch als im Bauch unserer Mutter, und sie, sie musste mich ebenfalls lieben, so und auf ewig. Ich beugte mich über sie, sie wehrte sich nicht.
    Ich musste eingeschlafen sein; als ich aufwachte, war das Zimmer dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, in Zürich oder Berlin. Die schwarzen Verdunklungsvorhänge ließen kein Licht durch. Verschwommen nahm ich eine Gestalt neben mir wahr: Una war unter die Bettdecke gekrochen und schlief. Lange lauschte ich ihren leisen gleichmäßigen Atemzügen. Unendlich langsam strich ich ihr dann eine Haarsträhne vom Ohr und beugte mich über ihr Gesicht. So verharrte ich, ohne sie zu berühren, nur den Duft ihrer Haut und ihren noch leicht nach Zigaretten riechenden Atem einsaugend. Schließlich stand ich auf, ging leise über den Teppich und verließ das Zimmer. Auf der Straße bemerkte ich, dass ich meine Mütze vergessen hatte, aber ich ging nicht wieder hinauf, sondern bat den Portier, mir ein Taxi zu rufen. In meinem Hotelzimmer stürmten die Erinnerungen weiter auf mich ein und nährten meine Schlaflosigkeit, doch jetzt waren es brutale, verstörende, abscheuliche Erinnerungen. Als Erwachsene besichtigten wir eine Art museale Folterkammer; dort gab es alle möglichen

Weitere Kostenlose Bücher