Die Wohlgesinnten
»Bist du verwundet worden? Lass mal sehen.« Ich zeigte ihm das Loch, und er stieß einen vielsagenden Pfiff aus: »Da hast du aber verdammtes Schwein gehabt.« Ich erwiderte nichts. »Robert geht bald nach Russland«, fuhr er fort, »mit Jeantet. Aber das ist nicht dasselbe.« – »Was wollen die dort?« – »Es ist eine offizielle Reise. Sie begleiten Doriot und Brinon, sie wollen die französische Freiwilligenlegion inspizieren, in der Nähe von Smolensk, glaube ich.« – »Und wie geht es Robert?« – »Wir sind im Augenblick etwas zerstritten. Er ist ein überzeugter Pétainist geworden. Wenn er so weitermacht, fliegt er noch beim JSP raus.« – »So schlimm?« Er bestellte noch zwei Glas Wein, und ich bot ihm eine weitere Zigarette an. »Hör zu!«, sagte er erbittert. »Du bist schon eine ganze Weile nicht in Frankreich gewesen: Glaub mir, hier hat sich einiges verändert. Sie sind alle wie ausgehungerte Hunde, die sich um den Kadaver der Republik streiten. Pétain ist senil, Laval führt sich schlimmer auf als ein Jude, Déat predigt den Sozialfaschismus,Doriot den Nationalbolschewismus. Eine Hündin fände da ihre eigenen Welpen nicht mehr wieder. Wir hätten einen Hitler gebraucht. Das ist die ganze Tragödie.« – »Und Maurras?« Rebatet verzog angewidert das Gesicht: »Maurras? Der steht jetzt für die Aktion itzig . Ich habe ihn mir in meinem Buch ordentlich vorgenommen; scheint ihn ziemlich umgehauen zu haben. Und noch eins will ich dir sagen: Seit Stalingrad ist hier alles in Auflösung. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Hast du die Wandschmierereien gesehen? Kein Collabo, der nicht einen Résistance-Kämpfer oder einen Juden versteckt hat, als eine Art Lebensversicherung.« – »Hör mal, wir sind noch lange nicht am Ende.« – »Das weiß ich doch. Aber was erwartest du? Die Welt ist feige. Ich habe meine Wahl getroffen und stehe dazu. Wenn das Schiff untergeht, gehe ich mit unter.« – »In Stalingrad habe ich einen Kommissar verhört, der hat Mathilde de la Mole zitiert, erinnerst du dich, aus Rot und Schwarz , ziemlich am Schluss?« Ich wiederholte den Satz für ihn, und er brach in schallendes Gelächter aus: »Wirklich, ein starkes Stück. Hat er es auf Französisch gesagt?« – »Nein, auf Deutsch. Er war ein eingefleischter Bolschewist, ein Aktivist, fabelhafter Kerl. Hätte dir gefallen.« – »Was habt ihr mit ihm gemacht?« Ich zuckte die Achseln. »Entschuldige«, sagte er. »Blöde Frage. Aber er hatte Recht. Weißt du, ich bewundere die Bolschewisten. Da gibt’s keine Schlamperei. Da herrscht Ordnung. Du spurst oder du musst dran glauben. Stalin ist ein ganz außerordentlicher Bursche. Hätt’s den Hitler nicht gegeben, wäre ich vielleicht Kommunist, wer weiß?« Wir tranken einen Schluck, und ich beobachtete das Kommen und Gehen der Leute. An einem Tisch im Hintergrund der Gaststube starrten mehrere Personen Rebatet an und tuschelten, doch ich kannte sie nicht. »Beschäftigst du dich noch immer mit dem Kino?«, fragte ich ihn. »Nicht mehr so sehr. Ich interessiere mich jetzt mehr für die Musik.« – »Ah, ja? Kennst du Berndt vonÜxküll?« – »Natürlich. Warum?« – »Er ist mein Schwager. Ich habe ihn neulich kennengelernt.« – »Im Ernst? Was kennst du bloß für Leute! Was macht er?« – »Nichts Besonderes, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Er hat sich in den Schmollwinkel zurückgezogen, auf sein Gut in Pommern.« – »Schade. Er hat gute Sachen gemacht.« – »Ich kenne seine Musik nicht. Wir haben ziemlich heftig über Schönberg diskutiert, den er verteidigt.« – »Das überrascht mich nicht. Kein ernsthafter Komponist könnte anders darüber denken.« – »Was denn? Du ergreifst für ihn Partei?« Er zuckte die Achseln: »Schönberg hat sich nie um Politik gekümmert. Und seine bedeutendsten Schüler, Webern oder Üxküll zum Beispiel, sind doch Arier, oder? In Schönbergs Entdeckung, der Zwölftonreihe, offenbart sich eine Möglichkeit der Töne, die schon immer da war, eine Strenge, die, wenn du so willst, von der Unschärfe des temperierten Tonsystems verborgen wird. Nach ihm kann sich jeder dieser Technik bedienen und mit ihr machen, was er will. Das ist der erste ernsthafte musikalische Fortschritt seit Wagner.« – »Aber ausgerechnet den Wagner kann Üxküll nicht ausstehen.« – »Das ist doch nicht möglich!«, rief er entsetzt aus. »Unmöglich!« – »Und doch ist es wahr.« Und ich wiederholte, was Üxküll dazu gesagt
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