Die Wohlgesinnten
Jahr. Sehen Sie auf Ihre Liste, es heißt jetzt Amtsgruppe D. Man hat Ihnen den Brigadeführer Glücks, den Chef der Inspektion, seinen Stellvertreter Obersturmbannführer Liebehenschel, der Ihnen, unter uns gesagt, nützlicher sein wird als sein Vorgesetzter, und einige Abteilungsleiter auf die Liste gesetzt. Doch die Lager sind nur eine Seite des Problems; da sind auch noch die SS-Unternehmen. Obergruppenführer Pohl, der das WVHA leitet, wird Sie empfangen und Ihnen davon berichten. Wenn Sie andere Offiziere sprechen wollen, um bestimmte Aspekte zu vertiefen, steht es Ihnen selbstverständlich frei: Aber suchen Sie zunächst diese hier auf. Im RSHA wird Ihnen Obersturmbannführer Eichmann das System der Sondertransporte erläutern, er wirdIhnen auch darlegen, wie weit die Lösung der Judenfrage gediehen und was für die Zukunft geplant ist.« – »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Obersturmbannführer?« – »Bitte sehr.« – »Wenn ich Sie richtig verstehe, habe ich Zugang zu allen Dokumenten, die die Endlösung der Judenfrage betreffen?« – »Insoweit die Lösung des Judenproblems unmittelbar die Frage der optimalen Nutzung der Arbeitskräfte betrifft, ja. Aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass dies Sie – und zwar in weit höherem Maße als Ihre Aufgaben in Russland – zu einem Geheimnisträger macht. Es ist Ihnen streng verboten, außerhalb des Dienstes mit irgendjemandem darüber zu sprechen, wer es auch sei, auch nicht mit den Amtsträgern der Ministerien oder der Partei, mit denen Sie in Berührung kommen. Der Reichsführer kennt in diesem Fall nur ein Urteil: die Todesstrafe.« Er wies wieder auf das Blatt Papier, das er mir gegeben hatte: »Mit allen Offizieren auf dieser Liste können Sie offen sprechen; was deren Untergebene angeht, müssen Sie vorher Erkundigungen einziehen.« – »Gut.« – »Für Ihre Berichte hat der Reichsführer eine Sprachregelung erlassen. Prägen Sie sie sich ein und halten Sie sich strikt an sie. Jeder Bericht, der sich nicht an sie hält, wird Ihnen zurückgeschickt.« – »Zu Befehl, Obersturmbannführer.«
Ich stürzte mich in die Arbeit wie in ein belebendes Bad, wie in eine der Schwefelquellen von Pjatigorsk. Tagelang saß ich auf dem kleinen Sofa in meinem Dienstzimmer und verschlang Berichte, Briefwechsel, Befehle, Organisationsschemata und rauchte hin und wieder heimlich eine Zigarette an meinem Fenster. Fräulein Praxa, eine etwas flatterhafte Sudetendeutsche, die ihre Tage offenkundig lieber mit Telefontratsch verbracht hätte, musste zwischen unserem Büro und dem Archiv ständig treppauf, treppab laufen und klagte dann über geschwollene Knöchel. »Danke«, sagte ich, ohne sie anzublicken, wenn sie mit einem neuen Stapel in mein Büro kam. »Legen Sie das dort ab und nehmen Sie die hier,ich bin damit fertig, Sie können sie wegbringen.« Sie seufzte und ging unter größtmöglicher Geräuschentfaltung. Frau Gutknecht hatte sich rasch als erbärmliche Köchin herausgestellt, die bestenfalls drei Gerichte kannte, alle mit Kohl, und sogar die noch oft genug verdarb; abends nahm ich die Gewohnheit an, Fräulein Praxa nach Hause zu schicken, in die Kantine hinunterzugehen, einen Happen zu essen und in meinem Dienstzimmer bis spät in die Nacht zu arbeiten, sodass ich nur zum Schlafen nach Hause kam. Um Piontek nicht unnütz warten zu lassen, fuhr ich mit der U-Bahn; um diese Zeit war die Linie C fast leer, und ich machte mir das Vergnügen, die wenigen Fahrgäste zu beobachten, ihre zerknitterten, erschöpften Gesichter, was mich ein wenig von mir selbst und meiner Arbeit ablenkte. Mehrmals befand ich mich mit demselben Mann im Abteil, einem Beamten, der wohl wie ich lange arbeitete; er nahm mich nie wahr, er war immer in ein Buch vertieft. Dieser Mann, der an sich wenig bemerkenswert war, hatte eine bemerkenswerte Art zu lesen: Während seine Augen den Zeilen folgten, bewegten sich seine Lippen, als spräche er die Wörter aus, ohne dass ich allerdings einen Laut hätte hören können, noch nicht einmal ein Flüstern; da spürte ich etwas von dem Staunen des Augustinus, als er zum ersten Mal sah, wie Ambrosius von Mailand stumm las, nur mit den Augen, während er, Augustinus, der Mann aus der Provinz, der nur laut und sich selber lauschend lesen konnte, nicht wusste, dass so etwas möglich war.
Im Laufe meiner Lektüre stieß ich auf den Bericht, den Dr. Korherr, dieser griesgrämige Statistiker, der unsere Zahlen bezweifelt hatte, Ende März dem
Weitere Kostenlose Bücher