Die Wohlgesinnten
Geschichte, die ich dir irgendwann mal erzähle. Ich hab dir doch in Stalingrad gesagt, wenn wir da mit heiler Haut rauskommen, machen wir uns ein schönes Leben. Es gibt keinen Grund, auf irgendwas zu verzichten.« Ich dachte über seinen Vorschlag nach, entschied mich dann aber doch für ein möbliertes Zimmer. Ich legte keinen Wert darauf, in einem SS-Heim zu wohnen, ich wollte selbst entscheiden, mit wem ich nach der Arbeit Umgang hatte; und die Vorstellung, allein zu leben, mit mir selbst als einziger Gesellschaft, bereitete mir, ehrlich gesagt, ein wenig Angst. Vermieter wären wenigstens eine menschliche Gegenwart, ich würde mir das Essen zubereiten lassen und Geräusche auf dem Flur hören. Also reichte ich eine Bedarfsmeldung ein, wobei ich angab, dass ich zwei Zimmer haben wollte und eine Frau zum Kochen und Putzen da sein müsse. Ich bekam etwas in Berlin-Mitte angeboten, bei einer Witwe, sechs U-Bahn-Stationen, ohne Umsteigen, von der Prinz-Albrecht-Straße entfernt und zu einem vernünftigen Preis; ich nahm sie, ohne sie zu besichtigen, und bekam ein Schreiben mit. Frau Gutknecht, eine dicke Frau über sechzig, mit rotem Gesicht, ausladenden Brüsten und gefärbtem Haar, musterte mich mit einem langen durchtriebenen Blick von Kopf bis Fuß, als sie mir öffnete. »Sie sind der Offizier?«, fragte sie mich, kräftig berlinernd. Ich trat ein und gab ihr die Hand: Sie stank nach billigem Parfüm. In dem langen Flur zeigte sie auf die verschiedenen Türen: »Hier wohn ich; da Sie. Und hier ist der Schlüssel. Ich hab natürlich auch einen.« Sie öffnete die Tür und ließ mich eintreten: billige Möbel voller Nippes, eine gelb gestrichene, sich wellende Tapete, abgestandene Luft. An das Wohnzimmer schloss sich das Schlafzimmer an, vom Rest der Wohnung abgetrennt. »Küche und Toilette sind hinten. Heißwasser ist rationiert, gebadet wirdnicht.« An der Wand hingen zwei schwarz gerahmte Fotos: ein Mann von etwa dreißig, mit einem kleinen Beamtenbärtchen, und ein kräftiger junger Bursche in Wehrmachtsuniform. »Ihr Gatte?«, fragte ich teilnahmsvoll. Eine Grimasse entstellte ihr Gesicht: »Ja, und mein Sohn Franz, mein kleiner Franzi. Er ist in den ersten Tagen des Frankreichfeldzugs gefallen. Sein Feldwebel hat mir geschrieben, dass er als Held gefallen ist, als er versuchte, einen Kameraden zu retten. Aber er hat keinen Orden bekommen. Er wollte seinen Papa rächen, meinen Bubi, den da, der ist in Verdun bei einem Gasangriff ums Leben gekommen.« – »Mein Beileid.« – »Oh, was Bubi angeht, daran habe ich mich gewöhnt, wissen Sie. Aber mein Franzi fehlt mir.« Sie warf mir einen berechnenden Blick zu: »Schade, dass ich keine Tochter habe. Sie könnten sie heiraten. Das würde mir gefallen, ein Offizier als Schwiegersohn. Mein Bubi war Unterfeldwebel und mein Franzi noch Gefreiter.« – »Das ist wirklich schade«, antwortete ich höflich.« Ich zeigte auf die Nippsachen: »Darf ich Sie bitten, das alles fortzuräumen? Ich brauche Platz für meine Sachen.« Sie sah mich empört an: »Und wohin soll ich sie stellen? Bei mir ist noch weniger Platz. Außerdem sind sie hübsch. Sie brauchen sie nur etwas beiseitezuschieben. Aber Vorsicht, klar? Wer Scherben macht, der zahlt.« Sie zeigte auf die Fotos: »Die kann ich wegnehmen, wenn Sie wollen. Ich will Ihnen mit meiner Trauer nicht das Herz schwer machen.« – »Nicht so wichtig«, sagte ich. »Na gut, dann lasse ich sie hängen. Das war das Lieblingszimmer von Bubi.« Wir einigten uns hinsichtlich der Mahlzeiten, und ich gab ihr einen Teil meiner Lebensmittelmarken.
Ich richtete mich ein, so gut es ging; meine Bemühungen brachten nicht viel. Nachdem ich die Nippfiguren und die billigen Romane aus der Zeit vor dem ersten Krieg zusammengeschoben hatte, standen mir einige Regalfächer für meine eigenen Bücher zur Verfügung, die ich aus dem Kellerholen ließ, in dem ich sie vor meiner Abreise nach Russland untergestellt hatte. Es machte mir Freude, sie auszupacken und durchzublättern, auch wenn viele von ihnen erheblich unter der Feuchtigkeit gelitten hatten. Neben sie stellte ich die Nietzsche-Ausgabe, die mir Thomas geschenkt und in die ich noch kein einziges Mal hineingeschaut hatte, die drei Burroughs, die ich aus Frankreich mitgebracht hatte, und den Blanchot, den ich nicht weitergelesen hatte; die Stendhal-Bände, die ich nach Russland mitgenommen hatte, waren dort geblieben – im Grunde ganz ähnlich wie 1812 Stendhal seine Tagebücher in
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