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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Russland abhanden gekommen waren. Ich bedauerte, während meines Abstechers nach Paris nicht daran gedacht zu haben, sie zu ersetzen, aber ich würde sicherlich noch Gelegenheit dazu haben – wenn ich lange genug lebte. Die kleine Schrift über den Ritualmord brachte mich in Verlegenheit: Während ich die Festgabe leicht bei meinen wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Büchern einordnen konnte, war dieses Buch schlecht unterzubringen. Schließlich stellte ich es zu den Geschichtsbüchern, zwischen Treitschke und Gustav Kossinna. Diese Bücher und meine Kleidung, das war alles, was ich besaß, abgesehen von einem Grammofon und einigen Platten; der Kinshal von Naltschik war leider auch in Stalingrad geblieben. Als ich alles eingeräumt hatte, legte ich Mozart-Arien auf, lehnte mich in einem Sessel zurück und zündete mir eine Zigarette an. Frau Gutknecht trat ohne anzuklopfen ein und regte sich sofort auf: »Sie werden hier auf keinen Fall rauchen! Das geht in die Vorhänge.« Ich stand auf und zog meinen Uniformrock glatt: »Liebe Frau Gutknecht, ich möchte Sie bitten, in Zukunft anzuklopfen und abzuwarten, bis ich Sie hereinbitte.« Sie wurde puterrot: »Sie werden schon entschuldigen, Herr Offizier! Schließlich bin ich hier zu Hause, oder? Und mit Verlaub, ich könnte Ihre Mutter sein. Was stört Sie daran, dass ich reinkomme? Sie haben doch wohl nicht die Absicht,Mädchen hochzubringen? Dies ist ein anständiges Haus, hier wohnen ordentliche Leute.« Ich fand, es sei höchste Zeit, die Sache ein für alle Mal zu klären: »Liebe Frau Gutknecht, ich habe bei Ihnen zwei Zimmer gemietet; folglich sind nicht mehr Sie hier zu Hause, sondern ich. Ich habe nicht die Absicht, Mädchen hochzubringen, wie Sie sagen, aber ich lege Wert auf mein Privatleben. Wenn Ihnen das nicht passt, nehme ich meine Sachen und das Mietgeld und gehe. Haben wir uns verstanden?« Sie beruhigte sich: »Seien Sie doch nicht gleich so, Herr Offizier … Ich bin das nicht gewohnt, das ist alles. Sie dürfen auch rauchen, wenn Sie wollen. Wenn Sie nur die Fenster öffnen würden …« Sie betrachtete meine Bücher: »Sie sind ein gebildeter Herr, wie ich sehe …« Ich unterbrach sie: »Liebe Frau Gutknecht, wenn Sie sonst nichts auf dem Herzen haben, wäre ich jetzt sehr gern allein.« – »Oh, Entschuldigung, selbstverständlich.« Sie ging hinaus, ich schloss hinter ihr ab und ließ den Schlüssel stecken.
     
    Ich brachte in der Personalabteilung meine Papiere in Ordnung und suchte dann wieder Brandt auf. Er hatte eines der kleinen hellen Büros im Dachgeschoss des ehemaligen Stadtpalais für mich frei räumen lassen. Mir stand ein Vorzimmer mit Telefon und ein Arbeitszimmer mit Couch zur Verfügung; dazu eine junge Sekretärin, Fräulein Praxa, die Dienste einer Ordonnanz, die drei Dienstzimmer betreute, und ein Schreibbüro, das für das ganze Stockwerk zuständig war. Mein Fahrer hieß Piontek, ein Volksdeutscher aus Oberschlesien, der mir auf meinen Dienstreisen auch als Bursche diente; der Wagen stand mir zur freien Verfügung, aber der Reichsführer bestand darauf, dass jede Privatfahrt gesondert abgerechnet und die Benzinkosten von meinem Gehalt abgezogen wurden. All das kam mir beinahe extravagant vor.»Das ist nichts Besonderes, Sie müssen doch vernünftige Arbeitsbedingungen haben«, versicherte mir Brandt mit einem kleinen Lächeln. Bei Obergruppenführer Wolff, dem Chef des Persönlichen Stabs, konnte ich nicht vorsprechen, er genas von einer schweren Erkrankung, und Brandt nahm seit Monaten alle seine Aufgaben wahr. Er präzisierte noch einmal, was man von mir erwartete: »Zunächst einmal müssen Sie sich unbedingt mit dem System und seinen Problemen vertraut machen. Alle Berichte zu diesem Thema, die an den Reichsführer gerichtet sind, sind hier archiviert: Lassen Sie sie sich kommen und schauen Sie sie durch. Hier ist eine Liste der SS-Offiziere an der Spitze der verschiedenen Abteilungen, die mit Ihrem Auftrag zu tun haben. Machen Sie Termine ab und besprechen Sie die Sache mit ihnen, sie erwarten Sie und werden offen mit Ihnen reden. Wenn Sie sich einen hinreichenden Gesamteindruck verschafft haben, machen Sie eine Inspektionsreise.« Ich warf einen Blick auf die Liste: Es handelte sich vor allem um Offiziere des Wirtschafts-Verwaltungshauptamts und des RSHA. »Die Inspektion der Konzentrationslager ist dem WVHA angegliedert worden, nicht wahr?«, fragte ich. »Ja«, antwortete Brandt, »seit etwas mehr als einem

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