Die Wohlgesinnten
Reichsführer übergeben hatte: Die seinen – ich muss es gestehen – entsetzten mich. Am Ende einer statistischen Prüfung, die für einen Laien schwer zu verstehen war, gelangte er zu dem Schluss, dass bis zum 31. Dezember 1942 1 873 549 Juden – Russland und Serbien nicht mitgerechnet – entweder gestorben, »inden Osten transportiert« oder »durch die Lager durchgeschleust« worden waren. (»Durchgeschleust« war ein seltsamer Ausdruck, der vermutlich auf die Sprachregelungen des Reichsführers zurückging.) Insgesamt, so Korherrs zusammenfassende Schlussfolgerung, habe der deutsche Einfluss seit der Machtergreifung die jüdische Bevölkerung Europas um vier Millionen verringert – eine Zahl, die, wenn ich es recht verstand, die Vorkriegsemigration einschloss. Selbst nach allem, was ich in Russland erlebt hatte, war das beeindruckend: Die behelfsmäßige Vorgehensweise der Einsatzgruppen gehörte längst der Vergangenheit an. Anhand einer ganzen Reihe von Befehlen und Anweisungen konnte ich mir auch eine Vorstellung davon machen, wie schwer es der Inspektion der Konzentrationslager gefallen war, sich den Erfordernissen des totalen Kriegs anzupassen. Während die Bildung des WVHA und die Eingliederung der IKL in die übergeordnete Behörde – Maßnahmen, die den Übergang zur höchstmöglichen Kriegsproduktion signalisieren und in die Tat umsetzen sollten – im März 1942 stattgefunden hatten, waren ernsthafte Bemühungen um Senkung der Sterblichkeitsziffern und Verbesserung der Arbeitsleistung der Häftlinge erst im Oktober angeordnet worden; noch im Dezember hatte Glücks, der Chef der IKL, den Ärzten der Konzentrationslager zwar befohlen, die sanitären Verhältnisse zu verbessern, um die Sterblichkeit zu senken und die Produktivität zu steigern, aber einmal mehr keine konkreten Maßnahmen genannt. Laut Statistik des D II, die ich zu Rate zog, war die Sterblichkeit, angegeben in monatlichen Prozentzahlen, stark zurückgegangen: Die Sterblichkeitsrate, bezogen auf alle KL, war von 10 Prozent im Dezember auf 2,8 Prozent im April gesunken. Doch dieser Rückgang war relativ, weil die Population in den Lagern unablässig zunahm; die absoluten Verlustziffern stagnierten. Ein Halbjahresbericht des D II zeigte, dass von Juli bis Dezember 194257 503 Häftlinge von 96 770, also 60 Prozent der Gesamtpopulation, gestorben waren; seit Januar bewegten sich die Verluste zwischen sechs- und siebentausend im Monat. Keine der ergriffenen Maßnahmen schien geeignet, diese Zahlen zu verringern. Außerdem waren einige Lager offenkundig schlimmer als andere; in Auschwitz, einem KL in Oberschlesien, von dem ich damals zum ersten Mal hörte, hatte die Sterblichkeitsrate im März 15,4 Prozent betragen. Ich begann zu begreifen, worauf der Reichsführer hinauswollte.
Trotzdem fühlte ich mich ziemlich unsicher. Lag das an den jüngsten Ereignissen oder ganz einfach an meinem angeborenen Mangel an bürokratischem Instinkt? Jedenfalls beschloss ich, nachdem ich in den Akten einen Gesamteindruck des Problems gewonnen hatte, Thomas um Rat zu fragen, bevor ich nach Oranienburg fuhr, wo die Leute von der IKL ihren Sitz hatten. Ich mochte Thomas gern, hatte mit ihm aber nie über meine persönlichen Probleme gesprochen; doch für meine beruflichen Zweifel konnte ich mir keinen besseren Vertrauten wünschen als ihn. Einmal hatte er mir höchst scharfsinnig das Funktionsprinzip des Systems dargelegt (das musste 1939, vielleicht auch Ende 38 gewesen sein, während der inneren Konflikte, die die Bewegung nach der Kristallnacht erschüttert hatten): »Dass die Befehle immer vage bleiben, ist normal, sogar Absicht, das ergibt sich logisch aus dem Führerprinzip selbst. Der Befehlsempfänger hat die Aufgabe, die Absichten des Befehlsgebers zu erkennen und entsprechend zu handeln. Wer auf klaren Befehlen oder gesetzgeberischen Maßnahmen besteht, hat nicht begriffen, dass es auf den Willen des Führers und nicht auf seine Befehle ankommt und dass der Befehlsempfänger die Pflicht hat, diesen Willen zu erfassen und sogar vorwegzunehmen. Wer so handeln kann, ist ein ausgezeichneter Nationalsozialist; niemand wird ihm jemals seinen Übereifer vorwerfen, selbst wenn er Fehler macht; die anderen sind die, die, wie der Führersagte, Angst haben, über ihren eigenen Schatten zu springen .« Das hatte ich verstanden; aber ich verstand auch, dass mir das Talent fehlte, hinter die Fassaden zu blicken, zu erraten, worum es im Verborgenen ging; doch
Weitere Kostenlose Bücher