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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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sie nur einen Wunsch: Männer, Männer und immer wieder Männer. Und da bekommt der Reichsführer ein Problem. Natürlich kann niemand das Programm der Endlösung an sich kritisieren: Das ist ein direkter Befehl des Führers, daher können die Ministerien nur über Nebensächlichkeiten nörgeln und versuchen, einen Teil der Juden für die Arbeit abzuzweigen. Aber seit Thierack sich bereit erklärt hat, seine Gefängnisse zugunsten der KL zu leeren, sind diese zu einem nicht zu unterschätzenden Arbeitskräftereservoir geworden. Natürlich kein Vergleich mit den Fremdarbeitern, aber doch besser als nichts. Nun wacht der Reichsführer aber eifersüchtig über die Selbstständigkeit der SS, und genau die tastet Speer an. Als der Reichsführer Industrien in den KL ansiedeln wollte, ist Speer zum Führer gegangen, und hopp, schon waren die Häftlinge in den Fabriken. Begreifst du, worum es geht: Der Reichsführer merkt, dass er in der schwächeren Position ist, und muss Speer Zugeständnisse machen, seinen guten Willen beweisen. Wenn es ihm tatsächlich gelingt, mehr Arbeitskräfte an die Industrie zu überstellen, sind natürlich alle zufrieden. Aber genau dort macht sich meiner Meinung nach das interne Problem bemerkbar: Weißt du, die SS ist wie einReich im Reich, da gibt es viele Strömungen. Nimm beispielsweise das RSHA: Heydrich war ein Genie, eine Naturgewalt und ein bewundernswerter Nationalsozialist; aber ich bin überzeugt, dass der Reichsführer insgeheim über seinen Tod erleichtert war. Schon der Einfall, ihn nach Prag zu schicken, war brillant: Heydrich hat das als Beförderung aufgefasst, aber er begriff sehr wohl, dass es seinen Einfluss im RSHA schwächte, einfach weil er nicht mehr in Berlin war. Sein Streben nach Eigenständigkeit war sehr ausgeprägt, deshalb hat der Reichsführer seinen Posten auch nicht wiederbesetzen wollen. Und dann sind dort die Amtschefs, die sich ebenfalls zu verselbstständigen beginnen. Da hat ihnen der Reichsführer Kaltenbrunner vor die Nase gesetzt, in der Hoffnung, dass er Kaltenbrunner, einen ausgemachten Dummkopf, im Griff behalten könnte. Aber wie du siehst, geht es schon wieder los: Es liegt an der Funktion, nicht am Menschen. Und das gilt für alle anderen Abteilungen und Ämter. In der IKL sitzen besonders viele alte Kämpfer: Die muss selbst der Reichsführer mit Samthandschuhen anfassen.« – »Wenn ich richtig verstehe, will der Reichsführer Reformen durchführen, ohne die IKL allzu sehr aufzuregen?« – »Oder er pfeift auf die Reformen, benutzt sie aber, um seinen Widersacher an die Kandare zu nehmen. Gleichzeitig muss er Speer beweisen, dass er mit ihm zusammenarbeitet, jedoch ohne ihm die Möglichkeit zu geben, Einfluss auf die SS zu nehmen oder ihr die Privilegien zu beschneiden.« – »Das ist ja wirklich sehr heikel.« – »Ja. Brandt hat ganz Recht: Analyse und Diplomatie.« – »Er hat auch von Initiative gesprochen.« – »Klar! Wenn du Lösungen findest – selbst für Probleme, die man dir nicht direkt ans Herz gelegt hat, aber die unmittelbar die Interessen des Reichsführers betreffen –, ist deine Karriere geritzt. Aber wenn du dich als großer Verwaltungsfachmann aufspielst und alles ummodeln willst, findest du dich, ehe du dich versiehst,als Stellvertreter in irgendeiner verlausten SD-Stelle im finstersten Galizien wieder. Also sieh dich vor: Wenn du mir noch mal so einen Streich spielst wie mit Frankreich, verzeih ich es mir nie, dich aus Stalingrad rausgeholt zu haben. Am Leben zu bleiben, muss man sich verdienen.«
     
    Diese zugleich spöttische und beunruhigende Warnung wurde schmerzlich durch einen kurzen Brief meiner Schwester unterstrichen. Wie ich vermutet hatte, war sie nach unserem Telefongespräch nach Antibes gereist:
Max,
die Polizei geht von einem Psychopathen, einem Einbrecher oder sogar einer Abrechnung aus. Tatsächlich weiß sie gar nichts. Die Beamten haben mir gesagt, sie würden Aristides Geschäfte unter die Lupe nehmen. Es war scheußlich. Sie haben mir alle möglichen Fragen zur Familie gestellt: Ich habe ihnen von Dir erzählt, mich aber aus irgendeinem Grund gescheut, ihnen zu sagen, daß Du hier warst. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte Angst, Dir Unannehmlichkeiten zu bereiten. Und wozu hätte es gut sein sollen? Ich bin gleich nach der Beerdigung abgereist. Ich hätte mir gewünscht, daß Du da gewesen wärst, und gleichzeitig hätte ich es schrecklich gefunden. Es war so traurig und armselig und

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