Die Wohlgesinnten
genau dieses Talent besaß Thomas im höchsten Maße, und das war der Grund, warum er im Kabrio spazieren fuhr, während ich mich mit der U-Bahn auf den Heimweg machte. Ich hatte mich mit ihm im Neva Grill verabredet, einem der guten Restaurants, die er gerne besuchte. Mit zynischem Spott berichtete er mir von der Moral der Bevölkerung, wie sie sich in den vertraulichen Berichten von Ohlendorf darstellte, von denen er Kopien erhielt: »Es ist bemerkenswert, wie gut die Leute über die vermeintlichen Geheimnisse informiert sind, die Euthanasieprogramme, die Judenvernichtung, die Lager in Polen, das Gas, alles. Du hast in Russland nie von den KL in Lublin oder Schlesien gehört, aber der einfache Straßenbahnschaffner in Berlin oder Düsseldorf weiß, dass die Häftlinge dort verbrannt werden. Und trotz der Berieselung mit Goebbels’ Propaganda können sich die Leute immer noch ihre eigene Meinung bilden. Die ausländischen Sender sind nicht die einzige Erklärung, denn viele Leute haben Angst, sie zu hören. Nein, ganz Deutschland ist heute ein riesiges Gespinst aus Gerüchten, ein Spinnennetz, das sich über alle Gebiete unter unserer Kontrolle erstreckt, die russische Front, den Balkan, Frankreich. Die Informationen verbreiten sich mit irrsinniger Geschwindigkeit. Und die ganz Schlauen machen sich ihren Reim auf diese Gerüchte und gelangen zu erstaunlich genauen Schlussfolgerungen. Weißt du, was wir kürzlich gemacht haben? Wir haben in Berlin ein Gerücht in die Welt gesetzt, ein vollkommen falsches Gerücht, das auf tatsächlichen, aber entstellten Informationen beruhte, um herauszufinden, wie schnell und auf welche Weise es die Runde macht. Wir haben es nach vierundzwanzig Stunden in München, Wien, Königsberg undHamburg ermittelt und nach achtundvierzig Stunden in Linz, Breslau, Lübeck und Jena. Ich bin versucht, das gleiche Experiment in der Ukraine beginnen zu lassen, aus reiner Neugier. Ermutigend ist aber, dass die Menschen trotzdem noch die Partei und den Staat unterstützen, sie glauben noch an unseren Führer und den Endsieg. Und was beweist das? Dass kaum zehn Jahre nach der Machtergreifung der nationalsozialistische Geist zu der Wahrheit im Alltag unseres Volkes geworden ist. Er ist bis in den letzten Winkel vorgedrungen. Daher wird er überdauern, selbst wenn wir den Krieg verlieren.« – »Reden wir lieber davon, wie wir den Krieg gewinnen können, einverstanden?« Ohne meine Mahlzeit zu unterbrechen, schilderte ich ihm die Befehle, die ich bekommen hatte, und die Lage, wie ich sie verstand. Er hörte mir zu, während er hin und wieder einen Schluck Wein trank und sein Rumpsteak genoss, das hervorragend gebraten war, im Kern noch rosig und saftig. Als er damit fertig war und sich Wein nachgegossen hatte, antwortete er: »Du hast da einen hochinteressanten Posten ergattert, aber ich beneide dich nicht. Da fliegen offenbar die Fetzen, und wenn du nicht aufpasst, kriegst du gewaltig was ab. Was weißt du über die politische Lage? Die Lage im Inneren, meine ich.« Auch ich beendete meine Mahlzeit: »Nicht viel.« – »Das solltest du aber. Sie hat sich seit Kriegsbeginn rasant entwickelt. Erstens, der Reichsmarschall ist kaltgestellt, und zwar endgültig, nach meiner Meinung. Wegen der Hilflosigkeit der Luftwaffe gegen die Bombenangriffe, seiner bodenlosen Verderbtheit und seines unmäßigen Rauschgiftkonsums nimmt ihn niemand mehr ernst: Er ist nur ein Statist, sie holen ihn aus der Versenkung hervor, wenn sie jemanden brauchen, der anstelle des Führers eine Rede hält. Und trotz seiner heroischen Anstrengungen nach Stalingrad ist auch der gute Dr. Goebbels abgehalftert. Der aufgehende Stern ist heute Speer. Nach seiner Ernennung durch den Führer hat ihm niemandmehr als ein halbes Jahr gegeben; seither hat er unsere Rüstungsproduktion verdreifacht, und der Führer bewilligt ihm alles, was er verlangt. Außerdem hat sich dieser kleine Architekt, über den man sich lustig gemacht hat, als bemerkenswerter Politiker erwiesen, und er hat mächtige Verbündete gewonnen: Milch, der das Luftfahrtministerium für Göring leitet, und Fromm, den Befehlshaber des Ersatzheeres. Was für Interessen hat Fromm? Fromm muss der Wehrmacht Männer liefern; also bedeutet jeder deutsche Arbeiter, der durch einen Fremdarbeiter oder einen Häftling ersetzt wird, einen Soldaten mehr für Fromm. Speer seinerseits denkt nur an die Steigerung der Produktion, und nicht anders ergeht es Milch mit der Luftwaffe. Alle haben
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