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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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grauenhaft. Sie sind gemeinsam auf dem städtischen Friedhof beigesetzt worden. Abgesehen von mir und einem Polizisten, der feststellen wollte, wer am Begräbnis teilnimmt, waren nur einige alte Freunde von Aristide und ein Priester anwesend. Ich bin gleich danach abgereist. Ich weiß nicht, was ich Dir sonst noch schreiben soll. Ich bin entsetzlich traurig. Paß auf Dich auf.
    Von den Zwillingen kein Wort: Nach ihrer heftigen Reaktion am Telefon fand ich das erstaunlich. Noch erstaunlicher war für mich allerdings meine vollkommene Teilnahmslosigkeit: Dieser Brief, aus dem Entsetzen und Trauer sprachen, machte auf mich nicht mehr Eindruck als ein vergilbtes Herbstblatt, das sich vom Zweig löst und tot ist, bevor es den Boden berührt. Schon wenige Minuten nachdem ich ihn gelesen hatte, dachte ich wieder über dienstliche Probleme nach. Die Fragen, die mich nur einige Wochen zuvor noch unablässig gepeinigt hatten, waren für mich jetzt wie eine Flucht geschlossener und stummer Türen; der Gedanke an meine Schwester – eine erloschene Glut, die nach kalter Asche roch, und der Gedanke an meine Mutter – ein stilles, seit langem vernachlässigtes Grab. Diese merkwürdige Apathie bemächtigte sich auch aller anderen Bereiche meines Lebens: Die Schikanen meiner Vermieterin ließen mich kalt, das sexuelle Verlangen erschien mir wie eine alte, verblasste Erinnerung, die Zukunftsangst wie ein nichtiger, unnützer Luxus. Das ähnelt übrigens ein wenig dem Zustand, in dem ich mich heute befinde, und ich empfinde ihn als angenehm. Ich lebe nur noch für die Arbeit. Gründlich erwog ich Thomas’ Ratschläge: Er schien mir noch mehr Recht zu haben, als er selbst wusste. Ende des Monats stand der Tiergarten in Blüte, die Bäume bedeckten die noch graue Stadt mit ihrem frechen Grün, und ich stattete der Dienststelle der Amtsgruppe D, der ehemaligen IKL, in Oranienburg, unweit des KL Sachsenhausen, einen Besuch ab: lange Gebäude, hell und sauber, schnurgerade Alleen, Blumenbeete, die von gut genährten und in sauberer Lagerkleidung steckenden Häftlingen sorgfältig umgegraben und gejätet wurden, energische, hochmotivierte Offiziere, die von der Wichtigkeit ihres Tuns durchdrungen waren. Brigadeführer Glücks empfing mich höflich. Er sprach viel und schnell, und dieser Wortschwall stand in auffälligem Gegensatz zu der Aura derTüchtigkeit, die sein Reich charakterisierte. Ihm fehlte der Blick für das Ganze, stattdessen ritt er lange und hartnäckig auf unwichtigen verwaltungstechnischen Einzelheiten herum, wobei er auf gut Glück mit statistischen Angaben um sich warf, die häufig falsch waren, die ich aber aus Höflichkeit notierte. Auf jede etwas genauere Frage antwortete er unweigerlich: »Oh, das fragen Sie besser Liebehenschel.« Dabei traktierte er mich auf das Freundlichste mit französischem Kognak und Keksen. »Die hat meine Frau gebacken. Trotz der Rationierung schafft sie es immer wieder. Eine wahre Zauberin.« Ganz offensichtlich wollte er mich, ohne den Reichsführer vor den Kopf zu stoßen, so schnell wie möglich loswerden, um sich wieder ganz seiner Trägheit und seinen Keksen widmen zu können. Ich beschloss, es kurz zu machen; kaum hielt ich inne, rief er seinen Adjutanten und goss mir einen letzten Kognak ein: »Auf unseren geliebten Reichsführer.« Ich nippte daran, stellte das Glas ab, grüßte und folgte seinem Mann. »Sie werden sehen«, rief mir Glücks noch nach, als ich an der Tür war, »Liebehenschel wird alle Ihre Fragen beantworten können.« Er hatte Recht. Sein Stellvertreter, ein kleiner Mann mit trauriger, erschöpfter Miene, der auch das Zentralamt der Amtsgruppe D leitete, gab mir einen knappen, intelligenten und realistischen Überblick über die Situation und den aktuellen Stand der Reformen. Ich wusste bereits, dass die meisten Befehle, die Glücks’ Unterschrift trugen, von Liebehenschel stammten: Das war kaum überraschend. Nach Liebehenschels Auffassung waren die Kommandanten für einen großen Teil der Probleme verantwortlich: »Sie haben nicht genügend Vorstellungskraft und wissen nicht, wie sie unseren Befehlen nachkommen sollen. Sobald ein Kommandant ein bisschen Initiative zeigt, haben wir eine ganz andere Situation. Aber wir leiden unter schrecklichem Personalmangel, und es zeichnet sich keine Möglichkeit ab, dieses Personal zu ersetzen.« – »Können diemedizinischen Einrichtungen diese Mängel nicht ausgleichen?« – »Wenn Sie nachher Dr. Lolling kennenlernen,

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