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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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und Fotografien, das alles zu einem Album gebunden, wie ich es in Kiew von der Großen Aktion angefertigt hatte. Auf der Titelseite stand in kalligraphischen gotischen Buchstaben: DAS JÜDISCHE VIERTEL IN WARSCHAU EXISTIERT NICHT MEHR! »Was ist das?«, fragte ich. »Das sind Berichte von Brigadeführer Stroop über die Niederschlagung des jüdischen Aufstands. Er hat dieses Album dem Reichsführer geschenkt, der es mir zur näheren Begutachtung übergeben hat.« Er strahlte vor Stolz. »Schauen Sie, schauen Sie nur, es ist erstaunlich.« Ich betrachtete die Fotos: Da gab es in der Tat einige beeindruckende Bilder. Befestigte Bunker, brennende Gebäude, Juden, die von Dächern sprangen, um den Flammen zu entkommen; dann die Trümmer des Viertels nach den Kampfhandlungen. Die SS und Polizei hatten die Widerstandsnester offenbar aus nächster Nähe mit Artillerie zusammengeschossen. »Das hat fast einen Monat gedauert«, flüsterte Eichmann und kaute sich am Finger ein Häutchen ab. »Einen Monat! Mit mehr als sechs Bataillonen. Sehen Sie, hier am Anfang, die Verlustliste.« Die erste Seite verzeichnete sechzehn Tote, darunter einen polnischen Polizisten. Dann folgte eine lange Aufzählung Verwundeter. »Was hatten sie für Waffen?«, fragte ich. »Zum Glück nichts Besonderes. Ein paar Maschinengewehre, Handgranaten, Pistolen und Brandflaschen.« – »Und woher haben sie die bekommen?« – »Bestimmt von polnischen Partisanen. Sehen Sie? Sie haben wie die Löwen gekämpft, diese Juden, die wir drei Jahre lang haben hungern lassen. Die Waffen-SS war schockiert.« EichmannsReaktion war fast die gleiche wie die von Thomas, nur schien es bei ihm eher Schrecken als Bewunderung zu sein. »Brigadeführer Stroop versichert, dass sogar die Frauen Handgranaten unter ihren Röcken versteckt hätten, um sich mit einem Deutschen in die Luft zu sprengen, wenn sie sich ergaben.« – »Verständlich«, sagte ich. »Sie wussten schließlich, was sie erwartete. Ist das Viertel vollkommen leer geräumt?« – »Ja. Alle lebendig ergriffenen Juden sind nach Treblinka verbracht worden. Das ist eines der von Gruppenführer Globocnik geleiteten Zentren.« – »Ohne Selektion.« – »Natürlich! Viel zu gefährlich. Wissen Sie, da hat Obergruppenführer Heydrich einmal mehr Recht behalten. Er hat das mit einer Krankheit verglichen: Der letzte Rest ist am schwersten zu vernichten. Die Schwachen, die Alten verschwinden sofort; am Ende sind nur noch die Jungen, die Starken, die Gerissenen übrig. Das ist sehr bedenklich, weil es das Ergebnis der natürlichen Zuchtwahl ist, eine biologische Brutstätte der Stärksten: Wenn die überleben, beginnt das Ganze in fünfzig Jahren von vorn. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass uns dieser Aufstand sehr beunruhigt hat. Wenn sich das wiederholt, könnte es katastrophale Folgen haben. Wir dürfen ihnen keine Möglichkeit lassen. Stellen Sie sich eine solche Revolte in einem Konzentrationslager vor! Undenkbar.« – »Trotzdem brauchen wir Arbeiter, das wissen Sie doch.« – »Natürlich, das habe nicht ich zu entscheiden. Ich wollte einfach deutlich machen, welche Gefahren bestehen. Die Arbeitsfrage fällt, wie ich Ihnen schon sagte, überhaupt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, und jeder macht sich so seine Gedanken. Aber gut. Wie mein Amtschef immer sagt: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Mehr wollte ich gar nicht sagen.« Ich gab ihm das Album zurück. »Vielen Dank, dass Sie mir das gezeigt haben, das war sehr interessant.« Wir gingen wieder zu den anderen; die ersten Gäste verabschiedeten sich bereits. Eichmann hielt mich noch zu einem letzten Glaszurück, dann entschuldigte ich mich und dankte Frau Eichmann mit einem Handkuss. Im Flur klopfte mir Eichmann freundschaftlich auf die Schulter: »Mit Verlaub, Sturmbannführer, Sie sind ein feiner Kerl. Keiner von diesen SD-Pinkeln in Wildlederhandschuhen. Nein wirklich, Sie sind in Ordnung.« Er hatte offenbar zu viel getrunken, das machte ihn sentimental. Ich dankte ihm und schüttelte ihm die Hand; er blieb in der Tür stehen, die Hände in den Taschen und ein Lächeln in einem Mundwinkel.
    Wenn ich so lange bei meinen Begegnungen mit Eichmann verweile, dann nicht, weil ich mich an sie besser erinnern würde als an andere. Doch dieser kleine Obersturmbannführer hat es in der Zwischenzeit zu einer Art von Berühmtheit gebracht, und ich denke, meine Erinnerungen, die etwas Licht auf seine Persönlichkeit werfen, könnten die Öffentlichkeit

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