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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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höherer Befehle … dass wir einfachunseren Willen darauf ausrichten müssen, den Befehlen besser nachzukommen. Sie positiv zu leben. Aber ich habe noch immer nicht das unwiderlegliche Argument gefunden, um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hat.« – »Und dabei ist es gar nicht so schwer, glaube ich. Wir sind uns alle einig, dass in einem nationalsozialistischen Staat die letzte Begründung des positiven Rechts der Wille des Führers ist. Das ist das bekannte Prinzip Führerworte haben Gesetzeskraft . Natürlich wissen wir, dass der Führer sich in der Praxis nicht um alles kümmern kann und daher auch andere in seinem Namen handeln und Gesetze erlassen müssen. Im Prinzip müsste sich dieser Gedanke auf das ganze Volk erstrecken. Aus diesem Grund hat Dr. Frank in seiner Abhandlung über das Verfassungsrecht die Definition des Führerprinzips in der folgenden Weise erweitert: Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde. Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesem Prinzip und dem kategorischen Imperativ.« – »Verstehe, verstehe. Frei sein ist Knecht sein , wie es in dem alten deutschen Sprichwort heißt.« – »Genau. Das Prinzip ist auf jedes Mitglied der Volksgemeinschaft anzuwenden. Wir müssen unseren Nationalsozialismus leben, indem wir unseren eigenen Willen als den des Führers und damit, um die kantischen Begriffe wiederaufzugreifen, als Grundlage des Volksrechts leben. Wer Befehlen wie ein Automat gehorcht, ohne sie kritisch auf ihre innere Notwendigkeit zu überprüfen, handelt nicht im Sinne des Führers; meistens wird er sich von dessen Willen entfernen. Natürlich ist der eigentliche Ursprung des völkischen Verfassungsrechts das Volk: Es ist außerhalb des Volkes nicht anwendbar. Der Irrtum Ihres Freundes liegt darin, dass er sich auf ein vollkommen mythisches übernationales Recht beruft, eine abwegige Erfindung der Französischen Revolution. Jedes Recht muss auf einer Grundlage ruhen. In der bisherigen Geschichte war diese immer eine Fiktion oderAbstraktion: Gott, König oder Nation. Unser großer Fortschritt war, dass wir den juristischen Begriff der Nation auf eine konkrete und unveräußerliche Gegebenheit gründeten: das Volk, dessen kollektiver Wille in dem Führer zum Ausdruck kommt, der es repräsentiert. Wenn Sie sagen Frei sein ist Knecht sein , müssen wir darunter verstehen, dass der erste Knecht von allen eben der Führer ist, denn er ist nichts anderes als bloßer Diener des Volkes. Wir dienen nicht dem Führer als solchem, sondern in seiner Rolle als Repräsentant des Volkes, wir dienen dem Volk und müssen ihm dienen, wie ihm der Führer dient, mit vollkommener Selbstlosigkeit. Deshalb müssen wir uns selbst in schmerzlichste Aufgaben schicken, unsere Gefühle im Zaum halten und unsere Pflicht mit Entschlossenheit erfüllen.« Eichmann hörte aufmerksam zu, den Hals vorgestreckt, die Augen starr hinter seinen dicken Brillengläsern. »Ja, ja«, sagte er eifrig, »ich verstehe Sie ganz genau. Unsere Pflicht, unsere Pflichterfüllung ist der höchste Ausdruck unserer menschlichen Freiheit.« – »Absolut. Wenn es unser Wille ist, unserem Führer und unserem Volk zu dienen, sind wir definitionsgemäß Träger des im Volksrecht sich manifestierenden Prinzips, so wie es vom Führer zum Ausdruck gebracht oder aus seinem Willen abgeleitet wird.« – »Entschuldigung«, warf einer der anderen Gäste ein, »war Kant nicht auch Antisemit?« – »Gewiss«, erwiderte ich. »Aber sein Antisemitismus war rein religiöser Natur, er erklärte sich aus seinem Glauben an ein künftiges Leben. Das sind Begriffe, die wir weitgehend überwunden haben.« Frau Eichmann und ein weiblicher Gast räumten den Tisch ab. Eichmann servierte Schnaps und zündete sich eine Zigarette an. Für ein paar Minuten hob wieder ein allgemeines Geplauder an. Ich trank meinen Schnaps und rauchte ebenfalls. Während seine Frau Kaffee auftrug, machte Eichmann mir ein Zeichen: »Kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Ich folgte ihm in sein Schlafzimmer. Er machteLicht, wies auf einen Stuhl, zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete, während ich mich setzte, eine Schublade seines Schreibtischs und entnahm ihr ein ziemlich dickes, in körniges schwarzes Leder gebundenes Album. Mit glänzenden Augen reichte er es mir und setzte sich auf das Bett. Ich blätterte es durch: eine Reihe von Berichten, teilweise auf Bristolkarton, andere auf gewöhnlichem Papier,

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