Die Wohlgesinnten
»Gute Reise!«
Eichmann hatte Wort gehalten: Bei meiner Rückkehr aus Lichterfelde am späten Nachmittag erwartete mich in meinem Dienstzimmer ein großer versiegelter Umschlag mit dem Stempel GEHEIME REICHSSACHE! Er enthielt ein Bündel Dokumente und ein Begleitschreiben; dazu eine handschriftliche Einladung von Eichmann für den kommenden Abend. Zunächst musste mich Piontek zum Einkauf von Blumen – eine ungerade Zahl, wie ich es in Russland gelernt hatte – und Schokolade fahren. Dann ließ ich mich in der Kurfürstenstraße absetzen. Eichmann hatte seine Wohnung in einem Nebenflügel seiner Dienststelle, der auch Unterkünfte für ledige Offiziere auf der Durchreise enthielt. Er öffnete selbst, in Zivil: »Ah! Sturmbannführer Aue. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass keine Uniform nötig gewesen wäre. Es ist ein ganz schlichter Abend. Aber das macht gar nichts. Kommen Sie herein, kommen Sie herein!« Er stellte mich seiner Frau Vera vor, einer kleinen, unscheinbaren Österreicherin, die aber vor Freude errötete und charmant lächelte, als ich ihrdie Blumen mit einer Verbeugung überreichte. Eichmann präsentierte zwei seiner Kinder, Dieter, der sechs Jahre alt sein mochte, und Klaus. »Der kleine Horst schläft schon«, sagte Frau Eichmann. »Unser Jüngster«, fügte ihr Mann hinzu. »Noch kein Jahr alt. Kommen Sie, ich mache Sie mit den Anwesenden bekannt.« Er führte mich in den Salon, wo schon mehrere Damen und Herren standen oder auf Kanapees saßen. Wenn ich mich richtig entsinne, waren da Hauptsturmführer Novak, ein Österreicher kroatischer Herkunft mit einem kantigen länglichen Gesicht, ziemlich gut aussehend, aber mit einem merkwürdig verächtlichen Gesichtsausdruck; Boll, der Geiger; und einige andere, deren Namen ich leider vergessen habe, alles Kameraden von Eichmann, und deren Frauen. »Günther wird auch vorbeischauen, aber nur auf eine Tasse Tee, er ist nur selten dabei.« – »Ich sehe, dass Sie in Ihrer Abteilung den Kameradschaftsgeist pflegen.« – »Ja, ja. Ich lege Wert auf einen herzlichen Umgang mit meinen Untergebenen. Was möchten Sie trinken? Einen kleinen Schnaps? Krieg ist Krieg … « Ich lachte, und er stimmte ein: »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Obersturmbannführer.« Ich nahm das Glas und hob es: »Dieses Mal möchte ich auf das Wohl Ihrer bezaubernden Familie trinken.« Er nahm Haltung an und verbeugte sich knapp: »Danke.« Wir plauderten ein wenig, dann führte mich Eichmann zur Anrichte, um mir ein schwarz gerahmtes Foto zu zeigen, auf dem ein noch junger Mann in Uniform zu sehen war. »Ihr Bruder?«, fragte ich. – »Ja.« Er betrachtete mich mit seiner merkwürdigen Vogelmiene, die bei dem Licht noch von der Hakennase und den abstehenden Ohren unterstrichen wurde. »Ich nehme an, dass Sie ihm dort unten nicht begegnet sind?« Er nannte eine Division, und ich schüttelte den Kopf: »Nein. Ich bin ziemlich spät angekommen, nach der Einkesselung. Und ich habe kaum jemanden getroffen.« – »Verstehe. Helmut ist bei einer der Herbstoffensiven gefallen. Die genauen Umständesind uns nicht bekannt, aber wir haben eine amtliche Benachrichtigung erhalten.« – »Das Ganze war ein schwerer Opfergang«, sagte ich. Er rieb sich die Lippen: »Ja. Hoffen wir, dass es nicht vergebens war. Aber ich glaube an das Genie des Führers.«
Frau Eichmann reichte Kuchen und Tee; Günther traf ein, nahm eine Tasse und stellte sich in eine Ecke, ohne mit jemandem zu sprechen. Ich beobachtete ihn verstohlen, während die anderen sich unterhielten. Offenbar war er ein sehr stolzer Mann, der großen Wert auf sein undurchsichtiges, verschlossenes Erscheinungsbild legte, das er seinen geschwätzigen Kameraden wie einen stummen Vorwurf entgegenhielt. Es hieß, er sei der Sohn von Hans F. K. Günther, dem Doyen der deutschen Rassenanthropologie, dessen Werk damals ungeheuer einflussreich war; wenn das stimmte, konnte Vater Günther stolz auf seinen Spross sein, diese perfekte Umsetzung der Theorie in die Praxis. Nach einer knappen halben Stunde verdrückte er sich mit einem zerstreut gemurmelten Abschiedsgruß. Der musikalische Teil des Abends begann: »Stets vor dem Abendessen«, teilte mir Eichmann mit. »Hinterher ist man zu sehr mit dem Verdauen beschäftigt, um noch gut zu spielen.« Vera Eichmann nahm die Bratsche zur Hand, und einer der Offiziere packte sein Cello aus. Sie spielten zwei der drei Brahm’schen Streichquartette, hübsch, aber uninteressant, wie ich fand; die
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