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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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interessieren. Es wurden viele Dummheiten über ihn geschrieben: Er war gewiss nicht der Feind des Menschengeschlechts , als der er in Nürnberg geschildert wurde (da er dort nicht anwesend war, fiel es nicht schwer, ihm alles in die Schuhe zu schieben, zumal die Richter wenig von der Arbeitsweise unserer Dienste begriffen); er war auch keineswegs die Inkarnation der Banalität des Bösen , nicht der gesichts- und seelenlose Roboter, als den man ihn nach seinem eigenen Prozess hatte hinstellen wollen. Er war ein sehr talentierter Verwaltungsbeamter, der seine Aufgaben ausgesprochen effizient erledigte und ein beträchtliches Maß an Einfallsreichtum und Eigeninitiative bewies, allerdings nur im Rahmen eng umschriebener Aufgaben: In verantwortlicher Stellung, wo er hätte Entscheidungen treffen müssen, etwa in der Funktion seines Amtschefs Müller, wäre er verloren, doch auf mittlerer Führungsebene der Stolz eines jeden europäischen Unternehmens gewesen. Ich habe nie bemerkt, dass er einen besonderen Hass auf Juden hegte: Sie waren lediglich die Grundlage seines beruflichen Erfolges, nicht nur sein Spezialgebiet,sondern in gewisser Weise auch seine Geschäftsgrundlage, und später, als man sie ihm fortnehmen wollte, hat er sie eifersüchtig verteidigt, was verständlich ist. Aber er hätte ebenso gut etwas anderes machen können, und als er seinen Richtern sagte, er halte die Judenvernichtung für einen Fehler, hat er es sicherlich auch so gemeint; wie erwähnt, dachten viele im RSHA und vor allem im SD genauso; doch sobald die Entscheidung getroffen war und es galt, ihr zum Erfolg zu verhelfen, war er sehr gewissenhaft; außerdem hing seine Karriere davon ab. Er gehörte bestimmt nicht zu der Art von Menschen, mit denen ich gern Umgang pflegte, seine Fähigkeit zu selbstständigem Denken war äußerst begrenzt, und als ich an diesem Abend auf dem Heimweg war, fragte ich mich, warum ich so mitteilsam gewesen war, warum ich mich so widerstandslos von dieser familiären und sentimentalen Atmosphäre hatte vereinnahmen lassen, obwohl ich sie doch sonst so verabscheute. Vielleicht hatte auch ich ein wenig das Bedürfnis, mich irgendwo zugehörig zu fühlen. Bei ihm war das Interesse klar: Ich war ein potenzieller Verbündeter in einer höheren Sphäre, die ihm normalerweise verschlossen war. Doch trotz all seiner Herzlichkeit blieb ich für ihn ein Fremder in seiner Abteilung und daher möglicherweise eine Bedrohung seiner Befugnisse. Ich ahnte, dass er jedes Hindernis, das sich ihm bei der Verfolgung seines Ziels in den Weg stellte, schlau und stur beiseiteräumen würde und dass er nicht der Mann war, der sich so ohne Weiteres davon hätte abbringen lassen. Seine Befürchtungen in Hinblick auf Judenkonzentrationen verstand ich zwar gut: Doch nach meinem Dafürhalten ließ sich diese Gefahr, wenn es denn erforderlich war, mit etwas Überlegung und geeigneten Maßnahmen minimieren. Im Moment ließ ich die Entscheidung noch offen, war ich noch zu keinem Schluss gelangt, ich wollte erst urteilen, wenn meine Analyse abgeschlossen war.
     
    Und der kategorische Imperativ? Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht allzu viel darüber, dem armen Eichmann hatte ich einfach irgendwas erzählt. In der Ukraine oder im Kaukasus interessierten mich solche Fragen noch, ich trug schwer an ihnen und diskutierte ernsthaft über sie, überzeugt von ihrer großen Bedeutung. Doch dieses Empfinden schien ich verloren zu haben. Wo war das geschehen? Und wann? In Stalingrad? Oder später? Eine Zeitlang hatte ich geglaubt zu versinken, überflutet von den Geschichten, die aus der Tiefe meiner Vergangenheit aufstiegen. Dann, mit dem sinnlosen und unbegreiflichen Tod meiner Mutter, waren auch diese Ängste verschwunden: Gegenwärtig wurde ich von einem Gefühl ungeheurer Gleichgültigkeit beherrscht, das nicht bedrückend, sondern leicht und genau war. Nur meine Arbeit zählte noch, ich fand, dass man mir da eine reizvolle Aufgabe gegeben hatte, die mir alles abverlangte und die ich erfolgreich bewältigen wollte – nicht in Hinblick auf Beförderungen oder höhere Ambitionen, die hatte ich nicht, sondern einfach wegen der Befriedigung, die wir empfinden, wenn wir eine Arbeit ordentlich gemacht haben. In dieser Gemütsverfassung bin ich nach Polen aufgebrochen, begleitet von Piontek, während Fräulein Praxa in Berlin zurückblieb, um für meine Post, meine Miete und ihre Fingernägel zu sorgen. Ich hatte für den Beginn meiner Reise einen

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