Die Wohlgesinnten
meiner Meinung vollkommen unangemessen, ja ungeeignet für eine Beurteilung dessen, was im Herzendieses Menschen vorgeht. Döll tötete Menschen oder ließ sie töten – das ist also das Böse; doch an sich war er ein Mensch, der gut zu seinen Angehörigen, gleichgültig gegenüber den anderen und obendrein gesetzestreu war. Was verlangt man mehr von dem Bewohner unserer zivilisierten und demokratischen Städte? Und wie viele Philanthropen in aller Welt, die berühmt geworden sind wegen ihrer außergewöhnlichen Großzügigkeit, sind in Wirklichkeit egoistische und gefühllose Ungeheuer, gierig nach öffentlicher Anerkennung, aufgeblasen vor Eitelkeit und tyrannisch gegen ihre Anverwandten? Jeder möchte seine Bedürfnisse befriedigen und bleibt gleichgültig gegenüber denen anderer. Um Menschen das Zusammenleben zu ermöglichen, um den Hobbes’schen Zustand des »jeder gegen jeden« zu vermeiden und um, ganz im Gegenteil, dank der daraus erwachsenden gegenseitigen Hilfe und Produktionssteigerung eine größere Zahl von Wünschen zu befriedigen, sind übergeordnete Instanzen erforderlich, die den Wünschen Grenzen setzen und Konflikte schlichten: Dieser Mechanismus ist das Gesetz. Doch es ist auch erforderlich, dass die Menschen, egoistisch und schwach, wie sie sind, den Zwang des Gesetzes akzeptieren, weshalb sich dieses auf eine dem Menschen äußerliche Instanz berufen und auf einer Macht gründen muss, die der Mensch als ihm selbst überlegen empfindet. Wie ich Eichmann bei unserem Abendessen erläutert hatte, war dieser höchste und imaginäre Bezugspunkt lange Zeit die Idee Gottes; von diesem unsichtbaren und allmächtigen Gott ging er auf die physische Person des Königs über, des Herrschers von Gottes Gnaden; und als dieser König seinen Kopf verlor, ging die Souveränität auf das Volk oder die Nation über und gründete sich auf einen fiktiven »Vertrag«, der jeder historischen oder biologischen Grundlage entbehrte und damit ebenso abstrakt war wie die Idee Gottes. Der Nationalsozialismus wollte sie im Volk , einer historischen Realität, verwurzeln:Das Volk ist souverän, und der Führer bringt diese Souveränität zum Ausdruck oder repräsentiert sie oder verkörpert sie. Aus dieser Souveränität leitet sich das Recht her, und für die meisten Menschen aller Länder ist Sittlichkeit nichts anderes als das Gesetz: In diesem Sinne ist das Sittengesetz Kants, das Eichmann so sehr beschäftigte – das Gesetz, das aus der Vernunft abgeleitet und für alle Menschen gleich ist –, eine Fiktion wie alle Gesetze (aber vielleicht eine nützliche Fiktion). Das biblische Gesetz sagt: Du sollst nicht töten, und es lässt keine Ausnahme gelten; aber jeder Jude oder Christ akzeptiert, dass dieses Gesetz in Kriegszeiten aufgehoben ist, dass es gerecht ist, den Feind des eigenen Volkes zu töten, und dass darin keine Sünde liegt; sobald der Krieg beendet ist und die Waffen niedergelegt sind, geht alles wieder seinen friedlichen Gang nach dem alten Gesetz, als hätte die Unterbrechung niemals stattgefunden. Daher bedeutet für einen Deutschen, ein guter Deutscher zu sein, den Gesetzen und damit dem Führer zu gehorchen: Eine andere Moral kann es nicht geben, denn es gibt nichts, worauf sie gegründet werden könnte. (Insofern ist es kein Zufall, dass die wenigen Menschen, die sich gegen die Macht auflehnten, in ihrer Mehrzahl religiös waren. Sie hatten sich einen anderen moralischen Bezugspunkt bewahrt, sie konnten zwischen Gut und Böse unterscheiden, indem sie sich auf eine andere Macht als den Führer beriefen, und Gott diente ihnen als Legitimation, um ihren Führer und ihr Land zu verraten. Ohne Gott wäre ihnen das unmöglich gewesen, denn woher hätten sie die Rechtfertigung nehmen sollen? Welcher Mensch könnte, auf sich selbst gestellt, nur dem eigenen Urteil folgend, eine Trennungslinie ziehen und sagen, dies hier ist gut und das dort ist böse? Was für eine Maßlosigkeit wäre es – und was für ein Chaos zudem –, wenn jeder es sich einfallen ließe, genauso zu handeln: wenn jeder Mensch nach seinem Privatgesetz lebte, und wäre es noch so kantisch; dann wärenwir im Handumdrehen wieder bei Hobbes.) Wenn man also die deutschen Taten während dieses Krieges als verbrecherisch einstufen will, muss man ganz Deutschland zur Rechenschaft ziehen und nicht nur die Dölls. Wenn Döll sich in Sobibor wiederfand und sein Nachbar nicht, war das ein Zufall, und Döll ist nicht in höherem Maße für Sobibor
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