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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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verantwortlich als sein vom Glück begünstigter Nachbar; umgekehrt ist aber sein Nachbar ebenso verantwortlich für Sobibor wie Döll, denn beide dienten rechtschaffen und hingebungsvoll demselben Land, diesem Land, das Sobibor hervorgebracht hat. Ein Soldat, der an die Front geschickt wird, protestiert nicht; dabei setzt er nicht nur sein Leben aufs Spiel, sondern wird auch zum Töten gezwungen, selbst wenn er nicht töten will; sein Wille hat abgedankt; wenn er auf seinem Posten bleibt, ist er ein tugendhafter Mensch, wenn er flieht, ist er ein Deserteur, ein Verräter. Der Mensch, der zum Dienst in ein Konzentrationslager geschickt wird – wie derjenige, der zu einem Einsatzkommando oder einem Polizeibataillon versetzt wird –, argumentiert in der Regel nicht anders: Er weiß, dass sein Wille nicht zählt und dass allein der Zufall einen Mörder aus ihm macht statt eines Helden oder Toten. Man könnte die Dinge auch von einem moralischen Standpunkt aus betrachten, der nicht mehr jüdisch-christlich (oder laizistisch und demokratisch, was streng genommen auf das Gleiche hinausläuft), sondern griechisch ist: Die Griechen wiesen dem Zufall eine Rolle in menschlichen Angelegenheiten zu (einem Zufall, so ist hinzuzufügen, der sich häufig als göttliches Eingreifen tarnte), waren aber keineswegs der Meinung, dass dieser Zufall sie im Mindesten von ihrer Verantwortung entband. Das Verbrechen nimmt Bezug auf die Tat, nicht auf den Willen. Als Ödipus seinen Vater tötet, weiß er nicht, dass er einen Vatermord begeht; auf der Straße einen Fremden zu töten, der einen beleidigt hat, ist für griechisches Gewissen und Recht legitim, darin liegt keine Schuld; aberdieser Mann war Laios, und die Unwissenheit ändert nichts an dem Verbrechen: Das erkennt Ödipus, und als er endlich die Wahrheit erfährt, wählt er seine Strafe selbst und nimmt sie auf sich. Der Zusammenhang zwischen Wille und Verbrechen ist eine christliche Vorstellung, die im modernen Recht fortbesteht. Beispielsweise ahndet das Strafrecht zwar die unbeabsichtigte oder fahrlässige Tötung, aber minder schwer als den vorsätzlichen Mord; Gleiches gilt für den Rechtsgrundsatz, der die Schuldfähigkeit im Falle geistiger Verwirrung einschränkt; und dem 19. Jahrhundert gelang es dann endgültig, den Begriff des Verbrechens mit dem der Geisteskrankheit zu verknüpfen. Für die Griechen spielte es kaum eine Rolle, ob Herakles seine Kinder in einer Anwandlung geistiger Umnachtung erschlägt oder Ödipus seinen Vater zufällig tötet: Das ändert nichts, es handelt sich um Verbrechen, sie sind schuldig; man kann sie bedauern, aber nicht freisprechen – und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bestrafung häufig den Göttern obliegt und nicht den Menschen. So gesehen war der Grundsatz der Nachkriegsprozesse, die Menschen nach ihren konkreten Taten zu verurteilen, ohne den Zufall zu berücksichtigen, durchaus rechtens; allerdings haben sich die Verantwortlichen ungeschickt angestellt; dem Urteil von Fremden ausgeliefert, deren Wertvorstellungen sie leugneten (ohne ihnen das Recht des Siegers abzusprechen), konnten die Deutschen sich von dieser Bürde befreit und damit unschuldig fühlen: Wie denn der glücklich Davongekommene den Verurteilten als ein Opfer unglücklicher Umstände betrachtete; er sprach ihn frei und im gleichen Atemzug auch sich selbst; und derjenige, der in einem englischen Kerker und im russischen Gulag dahinvegetierte, verfuhr genauso. Doch wie hätte es auch anders sein können? Wie hätte ein gewöhnlicher Mensch begreifen sollen, dass eine Sache, die eben noch gerecht gewesen war, plötzlich ein Verbrechen war? Die Menschen brauchen Führung,dafür können sie nichts. Die Fragen sind kompliziert, und es gibt keine einfachen Antworten. Wer weiß schon, wo das Recht zu finden ist? Jeder muss es suchen, aber es bleibt ein schwieriges Unterfangen, und da ist es normal, dass man sich der herrschenden Meinung anschließt. Wir können nicht alle Gesetzgeber sein. Vermutlich brachte mich die Begegnung mit einem Richter auf solche Gedanken.
     
     
    Wer keinen Gefallen an den Saufgelagen im Deutschen Haus fand, hatte in Lublin wenig Gelegenheit zur Zerstreuung. In meinen Mußestunden hatte ich die Altstadt und das Schloss besichtigt; abends ließ ich mir das Essen aufs Zimmer bringen und las. Die Festgabe von Best und das Bändchen über den Ritualmord hatte ich auf meinem Bücherbord in Berlin gelassen; dafür hatte ich die

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