Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
strahlenden Optimismus der offiziellen Verlautbarungen unmissverständlich waren, taten ein Übriges, um die Zungen zu lösen. Wenn triumphierend verkündet wurde, dass auf Sizilien unsere tapferen italienischen Verbündeten, von unseren eigenen Truppen unterstützt, unerschütterlich standhalten , wusste jeder, dass der Feind nicht ins Meer hatte zurückgeworfen werden können und nun endlich eine zweite Front in Europa eröffnet hatte; was Kursk anging, so wuchs die Besorgnis mit jedem Tag, denn die Wehrmacht hüllte sich nach den ersten Erfolgen in ein hartnäckiges und ungewöhnliches Schweigen: Und als schließlich von planmäßiger beweglicher Kampfführung im Raum Orjol die Rede war, begannen auch die Beschränktesten zu begreifen. Vielen gab diese Entwicklung sehr zu denken; und zwischen den Krakeelern, die allabendlich den besinnungslosen Exzess suchten, ließ sich immer jemand finden, der allein und schweigsam trank und sich in ein Gespräch ziehen ließ. So begann ich eines Tages eine Unterhaltung mit einem Mann in der Uniform eines Untersturmführers, der, die Ellenbogen auf die Theke gestützt, vor einem Krug Bier saß. Döll, so hieß er, schien geschmeichelt zu sein, dass ein höherer Offizier ihn so vertraut behandelte, obwohl er gut zehn Jahreälter sein mochte als ich. Er wies auf meinen »Gefrierfleischorden« und fragte mich, wo ich den betreffenden Winter verbracht hätte; als ich »Charkow« sagte, entspannte er sich endgültig. »Ich war auch da, zwischen Charkow und Kursk. Sonderaktionen.« – »Sie sind aber nicht bei der Einsatzgruppe gewesen?« – »Nein, es ging um etwas anderes. Ich bin eigentlich nicht bei der SS.« Er war einer der legendenumwobenen Beamten der Kanzlei des Führers. »Unter uns, wir nannten es T 4. So hieß die Aktion.« – »Und was haben Sie in der Gegend von Charkow gemacht?« – »Ach, wissen Sie, ich war in Sonnenstein, einem dieser Zentren für Kranke, wo …« Ich gab ihm durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass ich wusste, wovon er sprach, und er fuhr fort. »Im Sommer 41 war Schluss. Einige von uns galten als Spezialisten, wir wurden übernommen und nach Russland geschickt. Wir waren eine ganze Delegation, Oberdienstleiter Brack selbst hat das Kommando geführt, Anstaltsärzte gehörten dazu, und dann haben wir Sonderaktionen durchgeführt. Mit Gaswagen. Wir hatten alle eine Sonderbeilage in unserem Soldbuch, einen roten, vom OKW unterzeichneten Schein, auf dem verboten wurde, uns zu nahe an der Front einzusetzen: Sie hatten Angst, wir könnten den Russen in die Hände fallen.« – »Ich verstehe nicht recht. Die Sondermaßnahmen in dieser Region, alle Maßnahmen der Sipo fielen in die Verantwortung meines Kommandos. Sie sagen, Sie hätten Gaswagen gehabt, aber wie konnten Sie mit den gleichen Aufgaben wie wir betraut sein, ohne dass wir es wussten?« Auf sein Gesicht trat ein bitterer, fast zynischer Ausdruck: »Wir hatten nicht die gleichen Aufgaben. Die Juden und die Bolschewisten da unten haben wir nicht angerührt.« – »Und wen dann?« Er zögerte und trank wieder in langen Zügen, dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. »Wir haben uns um Verwundete gekümmert.« – »Russische Verwundete?« – »Falsch. Um unsere Verwundeten.Die, die es so übel erwischt hatte, dass sie zu einem nützlichen Leben nicht mehr zu gebrauchen waren. Die wurden uns geschickt.« Ich verstand, und er lächelte, als er es sah: Er hatte mich beeindruckt. Ich wandte mich zur Bar um und bestellte eine weitere Runde. »Sie sprechen von deutschen Kriegsversehrten«, sagte ich schließlich leise. »Genau. Eine echte Sauerei. Leute wie Sie und ich, die alles für die Heimat gegeben hatten, und dann … gute Nacht, Marie! Das war der Dank des Vaterlands. Ich war vielleicht erleichtert, als ich hierher versetzt wurde. Das ist zwar auch kein Honigschlecken, aber wenigstens nicht das.« Unsere Gläser kamen. Er erzählte mir von seiner Jugend: Er hatte eine Fachschule besucht, hatte Landwirt werden wollen, doch während der Depression war er dann zur Polizei gegangen: »Meine Kinder hatten Hunger, es war die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sie jeden Tag was auf dem Teller hatten.« Ende 39 war er nach Sonnenstein zur Aktion Gnadentod versetzt worden. Er hatte keine Ahnung, warum man auf ihn verfallen war. »Einerseits war es nicht sehr angenehm. Doch andererseits ersparte es mir die Front, die Bezahlung war in Ordnung, meine Frau war

Weitere Kostenlose Bücher